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Paradiessucher

Paradiessucher

Titel: Paradiessucher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rena Dumont
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in dieser Verfassung. Das wäre mir äußerst peinlich. Zwei Heulsusen auf einem Haufen. Die Sonne scheint mir gelb ins Gesicht, es muss sechs Uhr abends sein. Die kleinen Halbgestrickten aus dem Kindergarten von gegenüber wurden bereits alle abgeholt, man hört gar nichts mehr. Der Kindergarten wurde vor einigen Jahren neben die Schrebergärten gebaut. Jeden Tag höre ich die Kleinen vor meinen Fenstern und verfluche das Gekreische. Jetzt ist alles still. Ich vermisse die Kinder. Es ärgert mich, dass sie gerade jetzt nicht da sind, wo es mir guttäte, sie zu verfluchen. Sie erschweren mir die Trennung. Nur das Rauschen der kleinen, schüchternen Birken singt ein trauriges Liedchen. Ein Abschiedsliedchen.
    Plötzlich erinnere ich mich an andere Stimmen. Es sind die Stimmen meiner Freunde, die vermutlich auf dem Weg ins Freiluftkino sind. Das Freiluftkino liegt relativ weit vom Zentrum entfernt, mit dem Fahrrad fährt man ungefähr eine halbe Stunde auf der Landstraße, bis man dort ist. Ich höre meine Kameraden miteinander lachen, flirten, feixen. Sie radeln durch die Dunkelheit, atmen die warme Sommerluft tief ein, machen ununterbrochen Witze, manche halten an, um sich zu küssen, andere fahren weiter und machen sich über die Küssenden lustig. Im Kino sitzen sie eng aneinandergelehnt oder umschlungen auf den Bänken, in Decken gehüllt. Die Küssenden können endlich unbehelligt weiterknutschen. Dann der Film. Der gefällt immer, egal, was läuft.
    So denke ich nach und horche in mich hinein, in meine vergangenen Erinnerungen. Ich wünsche mir sehnlichst, dort zu sein. Bei all diesen wunderschönen Erlebnissen. Nun sind die Tränen nicht mehr so vereinzelt, sie versammeln sich zu einem heftigen Schluchzen, das ich nicht mehr steuern kann.
    Die Klingel schellt. Ich erschrecke entsetzlich. Mein verquollenes Gesicht zu verstecken ist nicht möglich, resigniert stehe ich auf, schleiche auf Zehenspitzen in den Flur und schaue durch den Spion. Dann öffne ich die Tür, lasse meinen Freund schnell rein, mache sofort die Tür zu und falle ihm heulend in die Arme. So weinen wir schweigend eine Weile. Es gibt keine Worte mehr, keine Vorwürfe, keine Pläne, kein gar nichts, nur das stille Einverständnis. Langsam ziehen wir uns in mein Zimmer zurück. Er nimmt zärtlich meinen Arm, küsst ihn und kritzelt mit einem Kuli etwas auf die Haut. So übersät er meinen Körper mit den schönsten Liebesgedichten. Ich wusste nicht, dass er so gut dichten kann. Die Tränen laufen ununterbrochen. Kein Wort wird gesprochen. Nur geschrieben. Die Tür zu meinem Zimmer ist geschlossen, meine Mutter sieht nichts, obwohl sie sicher sehr neugierig ist. Diese Stunde gehört uns. Sie weiß es, sie lässt uns in Ruhe.
    »Pavli, jetzt muss ich die Gedichte an der Grenze verstecken. Sie werden mich für verrückt halten, wenn sie das sehen«, lache ich ein wenig und nehme zart sein Gesicht in die Hände.
    Er schließt seine schönen braunen Augen und sagt ganz leise: »Damit musst du schon irgendwie fertig werden.«
    Ich nehme den Kuli und kritzele ein Bild auf sein bestes Stück. Ich versuche es zumindest. Es ist aber keine empfehlenswerte Stelle, selbst das Ohrläppchen hätte sich besser geeignet. Der Stift rutscht in alle Richtungen, tut ihm möglicherweise noch weh, und am Ende kann man nichts erkennen. Ich lasse es. Wir sind ein wenig aufgeheitert.
    »Pavli, wir werden uns sicher bald wiedersehen und für immer zusammenbleiben, ich liebe dich so sehr«, schluchze ich.
    »Ich liebe dich auch. Du warst sozusagen meine erste große Liebe«, sagt er mit einer Prise Zynismus.
    »Wieso ›du warst‹? Ich bin es doch immer noch!«
    »Ja, das stimmt … Wir sehen uns bald wieder.«
    Er steht auf, sein Gesicht glüht, die Augen sind voller Tränen. Er sagt es auf so eine Art wie: »Er ist zwar nicht die Wahrheit, aber es beruhigt dich, deshalb sage ich es.«
    »Hast du die Kinokarte drin?«
    »Ja.«
    »Aber du bist noch nicht drüben.«
    »Pavli, ich bin weder hier noch dort. Ich schwebe zurzeit.«
    »Ich will gehen, ich kann nicht mehr.«
    Er klingt verzweifelt. So begleite ich ihn zur Haustür. Schreien will ich. Wir sind schon ganz müde vor lauter Unglück.
    Mit gebrochenen Herzen gehen wir auseinander. Ich sehe ihm lange nach, wie er den kleinen Weg durch die Siedlung schlendert. Er dreht sich nicht mehr um, genau wie meine Mutter vor einigen Tagen, als Oma uns aus dem Fenster nachwinkte. Es scheint typisch für solche Situationen zu sein.

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