Paradiessucher
und wir stehen immer noch am Anfang: unentschieden.
Langsam, aber sicher breitet sich in unseren Köpfen eine nervöse, kalte Panik aus. Grübeln ist angesagt, nichts als Grübeln, während der langen Nächte in Aalen. Unsere Gesichter sind von Tag zu Tag ausgezehrter vom Schlafdefizit, den Sorgen und der Angst. Die Gastgeber ahnen nichts, wundern sich nur, warum wir den Aufenthalt im Westen nicht genießen.
»Lass mal locker«, ist Olins meistgesprochener Satz. Er glaubt, dass wir traurig sind, diese bunte und schöne Welt hinter uns lassen zu müssen und zurückzukehren in den grauen Alltagstrott im Osten. Stumpfes Arbeiten und Urlaub in Ungarn. Balaton oder Budapest. Mehr ist nicht drin.
»Leni, ich kann nicht mehr. Die werden uns nicht helfen. Die wollen uns loswerden«, sagt Mutter um zwei Uhr in der Nacht.
»Was können wir tun, Mami?«
»Ich drehe langsam durch.«
»Ich auch.«
Wir liegen still da, der Kühlschrank in der Küche summt sein Lied. Ich hätte Appetit auf einen der Joghurts darin, traue mich aber nicht, ihn zu essen. Schmarotzen dürfen wir nicht.
»Was ist mit Monika?«
»Die wohnt am Arsch der Welt«, sagt meine Mutter.
»Du sagst, dass ich nicht vulgär sprechen soll, und bei dir ist alles ein Scheiß, Arsch oder ein Ochse.«
»Ich scheiß drauf«, sagt sie und lacht.
Das liebe ich an meiner Mutter. Immer nach dem Motto: Ausnahmen bestätigen die Regel.
»Die wohnt an der französischen Grenze. Im Saarland.«
»Das könnte auch Honolulu sein, nie gehört«, antworte ich. »Hast du ihre Adresse?«
ES RIECHT NACH BLUT UND DESINFEKTIONSMITTEL
Im Gegensatz zu Olin und Ivana, die halb deutscher Herkunft sind und offiziell umgesiedelt sind, flüchtete Monika mit ihrer Familie illegal aus dem Land. Vor ein paar Jahren. Sie war unsere Nachbarin in der Plattenbausiedlung.
Monika ist für mich das Grauen. Eine leidenschaftliche Zahnärztin. Ich verabscheue Zahnärzte. Wegen meiner verhassten Zahnspange, die am Ende eh nichts half, hat mir Monika damals vier Zähne auf einmal aus dem Kiefer gezogen, wie Karotten aus der Erde. Mein Zahnfleisch zieht sich immer noch beim bloßen Gedanken an sie zusammen. Eins weiß ich: Selbst wenn ich in der Gosse liegen würde, nichts mehr zu essen hätte und am Erfrieren wäre – keine zehn Pferde brächten mich dazu, zu Monika zu gehen.
Zumindest hatte ich das bis vor einigen Wochen gedacht.
Jetzt ist Monika, meine Erzfeindin, unsere letzte Hoffnung. Ich bin froh, dass es sie gibt, ich hoffe nur, dass sie ihre Bluttaten nicht im eigenen Wohnzimmer praktiziert. Mach den Mund auf, sagt sie möglicherweise, noch bevor wir die Schwelle überschritten haben. Mir ist nicht gut.
»Ja, ich habe ihre Adresse.«
»Mami, arbeitet sie noch als Zahnärztin?«
»Ich denke schon.«
»Bei sich?«
»Wie, bei sich?«, fragt sie.
»Na ja, ich meine, in ihrer Wohnung?«
»Hä? Wieso in ihrer Wohnung? Sicher nicht, du Depperle.«
»Hm …«
»Warum fragst du?«
»Nur so.«
»Hast du Angst?«
»Nö …«
Sie sagt nichts mehr, wahrscheinlich ist sie eingeschlafen. Typisch, sie lässt mich in meiner Verwirrung allein. »Es handelt sich schließlich nicht um Zähne, sondern um unsere Zukunft«, flüstere ich mir zu.
Mutter kichert. »Leniçko, keine Bange, sie wird nicht bohren.«
»Ich dachte, du schläfst schon.«
»Nö …«
»Gut, dann rufen wir sie morgen an, ja?«
»Ja.«
»Gute Nacht.«
»Gute Nacht, Leni.«
Ivana ist im Fotostudio, sie arbeitet, sie fotografiert Essen. Olin ist beim Einkaufen. Wir sind allein in der Wohnung. Mutter sitzt am Telefon.
Endlich kommt der erste relevante Satz aus dem Telefonat mit Monika: »Wollt ihr emigrieren? Wir können euch gut beraten. Darauf könnt ihr euch verlassen. Wir kennen uns aus.«
Vorher war es ein harmloses Telefonat, Smalltalk zwischen Freundinnen, banales Zeug: »Wie geht es euch? Gut, danke. Wir sind im Urlaub, schönes Wetter …«
Und dann das! Balsam für die Seele. Im Rachen meiner Feindin, der Zahnärztin, die nichts anderes tut, als mit einem brutalen Ruck das schreiende Zahnfleisch in eine klaffende Wunde zu verwandeln, fühle ich mich wohl.
Noch am selben Tag verabschieden wir uns von Olin, wir warten nicht mal ab, bis Ivana nach Hause kommt. Es eilt.
Wir sitzen auf ihrem Sofa. Monikas Mann serviert uns Kaffee mit Satz. Tschechisch. Stark wie zu Hause. Ich fühle mich geborgen bei Monika, obwohl ich immer noch nach Beweisen für ihre Bluttaten suche. Sie sieht so frisch und jung aus.
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