Paradiessucher
hin. Wahrscheinlich muss sie aufs Klo und merkt es vor Aufregung nicht.
Ich wage mich bis an die Tür der Polizeistation und fordere Mutter auf, mir zu folgen. Doch dann verlässt mich aus dem Nichts der Mut, und ich laufe die drei Stufen vor dem Eingang schnell wieder hinab. Mutter will sich nicht anmerken lassen, dass sie, genau wie ich, die Hose gestrichen voll hat. Erneut schreitet sie die drei Stufen empor, wie Ihre Majestät höchstpersönlich.
»Komm, das ist doch albern, lass uns klopfen«, sagt sie, mit verrotzter Nase.
»Nein! Warte! Nein!«, schreie ich auf und fuchtele wild mit den Armen.
»Warum? Komm, wir klopfen«, sagt sie wieder, geht aber die drei Stufen wieder zurück. So geht es eine ganze Weile. Zwei Artistinnen tänzeln auf den Stufen der Berchtesgadener Polizeistation. Auf und ab, auf und ab. Wir lachen wieder. Auf und ab, ja oder nein …
Plötzlich wird die Tür aufgerissen. Zwei junge Polizeibeamte stehen vor uns und sagen etwas. Sie zeigen lächelnd mit der Hand auf eine Kamera, die über der Tür installiert ist. Vielleicht haben sie sich über unsere Inszenierung amüsiert. Das könnte sein, denn sie sind bester Laune. Wahrscheinlich fragen sie uns, ob wir hineinwollen, keine Ahnung. Wir gehen einfach rein. Wir stehen auf einmal in einem deutschen Polizeirevier, mittendrin in dem mit Neonlicht ausgeleuchteten Raum, und wissen nicht weiter. Die Polizisten, fünf Beamte, alle ziemlich jung, erwarten etwas von uns, was ich auf Englisch selbstverständlich nicht sagen kann. Sie scheinen beinahe Bescheid zu wissen, über was wir mit ihnen sprechen wollen, lassen uns aber stehen und in unserer Peinlichkeit baden.
Wie soll ich es sagen? Natürlich habe ich gelogen, als ich Mutter versichert habe, ich wisse, was »verlassen« auf Englisch heißt! Keine Ahnung, Mann!
»Wi wont politikl Asil«, ertönt es aus meinem Mund.
Ja, sie wissen Bescheid, wir sind, weiß Gott, nicht die Ersten. Sie sprechen miteinander, dann mit uns, dann wieder miteinander. Deutsch, Englisch, Französisch sprechen sie, ich verstehe nur Bahnhof.
»We don’t want go home.«
Nach einer Weile, nach unserer auf hohem Niveau geführten Diskussion, nehmen sie ohne Erklärung unsere Handtaschen und kippen den gesamten Inhalt auf den Tisch. Wie peinlich. Zwischen unseren Pässen befinden sich auch andere, weniger würdige Gegenstände, zum Beispiel Servietten, Klopapier, Lippenstift, angebissene Schokolade, Brotreste, eine angegammelte Birne, Schlüssel, die diese Birne malträtiert haben, eine Damenbinde (unbenutzt!), tausend Zettel und Notizen, lose Münzen, einfach alles. Damit haben wir nicht gerechnet, und ehrlich gesagt gehen uns seit unserer Abreise andere Gedanken durch den Kopf als die Ordnung in unseren Handtaschen. Die Jungs benehmen sich aber anständig und fischen tapfer die für sie wichtigen Unterlagen heraus. Pässe, Ausweise und Visa.
Die einfachsten Informationen wie Name, Adresse, Land, Alter kann ich ihnen gerade noch mitteilen, alles Weitere bleibt verborgen. Sie bemühen sich immer wieder, mit mir ins Gespräch zu kommen, etwas herauszufinden.
Entweder habe ich während der Englischstunden auf dem Gymnasium geschlafen, war gerade Kreide holen, oder die Englischlehrerin war völlig daneben. Ich kann jedenfalls kein Englisch. Leider.
So geht es lange in diesem nüchternen, kahlen Raum. Sie machen von uns sofort Fingerabdrücke, und ich fühle mich wieder wie in einem Krimi. Nur diesmal in einer anderen Rolle: Die Sherlock Holmese sind diesmal sie , nicht wir.
Ans Zurückkehren denke ich nicht mehr. Das war’s. Jetzt gibt es nur noch ein »nach vorne«, die Zukunft. Die Tür nach Pùerov ist hiermit endgültig verschlossen. Es ist erleichternd, befreiend. Meine Gedanken kreisen um die unmittelbaren Geschehnisse. Was wird jetzt passieren? Wo werden wir schlafen? Wovon werden wir morgen leben? Übermorgen? In einer Woche? Müssen wir gleich nach Königssee, oder übernachten wir im Gefängnis? Was wird mit uns im Winter geschehen? Wir haben nur T-Shirts im Gepäck. Die Mäntel sind in Pùerov geblieben.
Die Beamten drücken meiner Mutter irgendwelche Unterlagen in die Hand, wir dürfen unsere alten Brote und den Rest des Tascheninhalts einsammeln. Mit dem Finger deuten sie auf das Formular und geben uns zu verstehen, dass wir morgen an der angegebenen Adresse erscheinen sollen – nehme ich an. Wo es ist, was wir dort sollen, wie lange wir dort bleiben, wissen wir nicht. Die Beamten zeigen etwas
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