Paradiessucher
Wie sie spitzbübisch dreinschauen, ihre Kleidung, die Gesichtszüge, wie sie ihr Haar tragen, ihre Körperhaltung, die Art, wie sie zusammenstehen, ihre gesamte Ausstrahlung, es schreit einfach aus ihnen heraus, dass sie keine Deutschen sind. Und das Interessante daran ist, das wird mir in diesem Augenblick bewusst: Mama und ich sehen genauso aus wie sie. Wir passen da hin wie Arsch auf Eimer!
Mama fährt noch näher heran, macht den Motor aus und hält inne. »Wenn ich es so betrachte, dann ist es doch gar kein schlechtes Haus, oder? Aber die Leute sehen so asozial aus. Der da, wenn das kein Tscheche ist, fress ich nen Besen …«
»Mama, bitte, zeig doch nicht mit dem Finger auf ihn, das sind keine Ausstellungsstücke im Museum. Er wird sich noch angesprochen fühlen!«
Ich hasse diese Geste an meiner Mutter.
»Was!? Er hat das doch gar nicht gesehen!«, gibt sie scharf zurück.
»Doch! Er haut uns noch auf die Fresse.«
»Ich bitte dich!«
»Doch, er hat dich gesehen. Du bist unmöglich!«, kann ich mir nicht verkneifen.
»Noch ein Wort und du kriegst was hinter die Ohren, du Maul!«
Ihre gestern Abend noch verschüttete mütterliche Autorität bricht sich wieder Bahn. Wie ein Vulkan. Huh. Sie ist die Mutter, wie ich sie von zu Hause kenne. Eben meine Mutter. Wie schnell das geht. Das darf ich ihr natürlich niemals offenbaren, sonst würde sie mich noch zwingen, nach Hause zu fahren, nur der Macht wegen. So sitzen wir noch ein paar Minuten im Auto und schmollen. Und als wir beide der Meinung sind, dass die Schmollpause genug Wirkung erzielt hat, für beide, versteht sich, steigen wir aus. Wir schauen uns unsere zukünftige Bleibe an.
Es ist offensichtlich früher ein Sporthotel gewesen, mit einer Lobby, die nun nicht mehr Lobby, sondern »Meldetreff« heißt. Vier lange Gänge mit vielen Türen münden in sie. Es ist früher ein gutes Hotel gewesen, mit einer großzügigen Rezeption, einem Concierge, Restaurant und so weiter, keine Frage. Der Prunk ist seit Langem weg. Schmutzige, kahle Wände und zu unseren Füßen ein altes, gut abwaschbares Linoleum in Grau. Die Türen entlang des Gangs sind wohl im letzten Jahrhundert lackiert worden, sie sind abgekratzt und auch grau. Die Schlösser sind meist kaputt oder nicht vorhanden. Was mich besonders beunruhigt, sind die Spritzer oder Spuren an den Wänden. Sie sind schwer zu definieren. Ketchup, dunkle Soße oder braunrote Farbe kommen infrage, oder aber auch angetrocknetes Blut.
Mein verzerrtes Gesicht fällt auf, die vorbeigehenden Typen glotzen mich an und quatschen etwas. Einer pustet mir seinen Zigarettenrauch frech ins Gesicht, was ich ziemlich widerlich finde. Diese Luft hat seinen Gaumen und seine Lunge berührt, mit dieser Luft will ich nichts zu tun haben. Ich reagiere nicht auf sie, gehe weiter. Meine Mutter hinter mir her.
Gestank aus verbranntem Frittieröl, Schweiß, Kochgerüchen und Desinfektionsmittel steigt mir beißend in die Nase, er wird mit jedem Stockwerk, das wir emporsteigen, stärker, als gäbe es hier keine Fenster. Ein Wirrwarr an Geräuschen überdeckt das Ganze. Die verschiedensten Sprachen, die ich noch nie gehört habe, mischen sich mit mir bekannten Sprachen. Jugoslawisch, Russisch, Polnisch und Slowakisch kenne ich aus dem Urlaub.
Mein Vater hatte, bevor er uns verließ, unter anderem auch als Reiseleiter für eine jugoslawische Reisegesellschaft gearbeitet. Damals ein lukrativer Job. Wir hatten einen großartigen Vorteil: Die Familienmitglieder durften umsonst mitfliegen. Hurra. Man muss bedenken, dass so ein Urlaub in Jugoslawien viel Geld kostet.
Mein Vater war dann verschwunden, und unsere Jugoslawien-Urlaube wurden von meiner Mutter übernommen. In einer billigeren Gegend. Mit dem Fiat, nicht so weit weg, das kostet weniger Sprit. Der Fiat ist kein Auto, er verbraucht nichts, man könnte hineinpinkeln, auch dann würde er fahren. Trotzdem hat Mutter das ganze Jahr sparen müssen. Und die Übernachtungen sind auf Privatunterkünfte geschrumpft, wo wir uns von einem Dutzend Dosen mit Bohnen, Suppentüten, eingelegten Gurken, Schaschlik im Glas und Salami ernährt haben. Wir haben auf jegliche Restaurantbesuche verzichtet, haben aber trotzdem die gleiche Sonne genossen, sind genauso braun geworden, und die Jungs haben mit meiner Mutter und mir genauso gerne geflirtet wie mit den wohlhabenden Touristinnen aus den Hotels.
Wir haben die Sprache verstanden.
Russisch hatte ich in der Schule seit der dritten Klasse.
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