Paradiessucher
scheint eine Art Uniform zu sein. Mir ist klar, dass ich solch ein Kleidungsstück nie im Leben anziehen werde. Es stößt mich ab. Ich finde, es sieht scheußlich aus. Kriminell.
»Sie kommt sicher«, meint der Slowake.
»Wo sollen wir hin, wenn alles voll ist?«, fragt Mama fast hysterisch.
Einige schütteln den Kopf. Niemand ist daran interessiert, uns eine klare Antwort zu geben. Kein Schwein, bis auf mich, kümmern Mutters Sorgen. Sie lässt sich langsam auf die Armlehne des versifften Sessels sinken. Alles, was geschehen ist, meine Mutter, ich, die anderen, die Situation an sich, kommt mir grotesk vor. Noch vor ein paar Tagen waren wir wer. Nun sind wir ein Scheißdreck. Was tun wir denn hier? Immer wieder dieselben Fragen. Wir warten irgendwo in der Welt auf irgendjemanden, den wir noch nie gesehen haben, wissen nicht, ob wir diese Nacht ein Dach überm Kopf haben, wissen nicht, wovon wir leben, wenn uns das ersparte Geld ausgeht, wissen nicht, wie lange wir hierbleiben müssen und ob wir jemals ein normales Leben leben werden. Absurd.
Die Chefin kommt. Eine Deutsche. Als sie uns das Zimmer unterm Dach zeigt, freuen wir uns wie Kinder. So fühlt sich Glück an.
Das Zimmer ist voller Kakerlaken. Meint Mutter. Sie hat sie schon mal gesehen, ich hatte noch nie die Ehre. Licht an, ein Geraschel, Licht aus, wieder ein Geraschel. In der Nacht spüre ich, wie sie über mich und am Bettrand spazieren gehen, mich leicht mit den Fühlern berühren, manche sind richtig schwer, ich spüre ihr Gewicht. Manche sind wiederum ganz leicht. Babys. Es stört mich nicht.
Mutter hält mir noch in der Nacht ein ausführliches Kakerlakenreferat. Von ihrem schlechten Ruf erzählt sie mir. Daraufhin ist es vorbei mit der Freundschaft zwischen mir und den Kakerlaken. Es wird mir in den Kopf implantiert, sie zu hassen. Meine eigene Mutter vermiest unsere Beziehung! Ich mache mit. Davor habe ich sie behandelt wie alle anderen schwarzen Käfer, sie gehörten zur Natur, und alles, was aus der Natur kommt, ist irgendwie rein und positiv. Jetzt werde ich beim bloßen Anblick in panische Angst, Hysterie und Ekel versetzt. Es tut mir leid für sie. Ich, der tierliebende Mensch, verurteilt, jagt und tötet sie, wie die ganze Welt es tut, obwohl sie mir persönlich nichts getan haben. In den Morgenstunden löse ich die Ungerechtigkeit mit einem Kompromiss: Ich töte sie nicht, ich gehe ihnen aus dem Weg. Das Licht bleibt die ganze Nacht an. Mutter will es nicht glauben, dass ich wegen der Kakerlaken so ein Theater veranstalte, statt sie plattzumachen. Sie lacht über mein Kakerlakenmitgefühl. Ich sei der einzige Mensch auf der Erde, dem es leidtue, so ein Mistvieh zu töten, sagt sie.
Der prollige Blonde, der sich am Anfang so grob auswies, ist in Wirklichkeit ein netter Bursche, er begleitet uns sogar überallhin, hilft, wo es geht, fühlt sich wie unser Schutzengel, und letztendlich verfängt er sich in den unschuldigen Netzen des weiblichen Reizes, die meine Mutter webt. Das hätte ich gar nicht erwartet.
HOFFNUNGSLOSE ANALPHABETIN UND DIE BRIEFE
Der Ort, an dem wir uns am nächsten Tag melden, nennt sich »Landratsamt«. Bitte was? Was ist das für ein Wort? Dieses Wort kann ein Flüchtling niemals aussprechen. Kann das nicht irgendwie umbenannt werden? Bis ich »Landratsamt« ausmodelliere, vergeht viel Zeit. Mama macht gar keine Anstalten, sie versucht es nicht einmal, es wäre völlig sinnlos.
Der dickbäuchige Beamte zeigt auf die blauen Pässe. Uns dämmert, dass es sich um unsere vorläufigen Ausweise handelt. Wir verrichten die Aufgabe, die er von uns verlangt, beziehungsweise ich die meine, denn Mama ist wieder mit ihren Nerven am Ende. Sie würde aus dem Fenster des Landratsamts springen, wenn es der Beamte von ihr verlangte. Ihre zittrigen Finger mit dem abgewetzten rosa Nagellack versuchen ein Autogramm hinzubekommen. Fehlanzeige! Zu viel verlangt! Die Aufregung, die sie offensichtlich bei jeder Art von Befragung seitens öffentlicher Autoritäten oder bei Grenzüberschreitungen, allgemeinen amtlichen Meldungen und Erklärungen oder überhaupt offiziellen Anlässen erleidet, wächst ins Unermessliche. Der Beamte denkt sicherlich, sie sei eine Analphabetin, beim Anblick der drei Striche, die sie dahinkratzt und die ihren Namen darstellen sollen. Wenn man bedenkt, dass dieses blaue Dokument mit ihren Hieroglyphen ein vorläufiger Ausweis sein soll, mit dem sie sich noch lange Zeit herumschlagen wird, kann man sich
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