Paradiessucher
ein Phänomen. Freizügig, unbekümmert, locker. Ich beneide sie darum. Sie verschlingt den Pornostreifen so wie ihr Brot in der Hand, findet es geil, genießt es, frisst das erregende Gefühl in sich auf, schämt sich gar nicht, und ich laufe an wie eine Tomate. Ich bemerke den Widerspruch in mir. Ein Teil will genauso offenherzig sein wie sie, der andere lehnt es strikt ab. Ich blockiere mich selbst, stehe mir quasi im Weg und bin mit mir unzufrieden.
Das zweitbeliebteste Genre ist der Horrorfilm. Beim Aussprechen des Wortes läuft mir ein Schauer über den Rücken. Als würde ich beim Wechseln einer Glühbirne einen Schlag bekommen.
Wir ziehen uns fast alle Horrorschinken rein, die in der nahe gelegenen Berchtesgadener Videothek auszuleihen sind. Das wenige Geld, das jeder besitzt, wird für diesen Schwachsinn ausgegeben. Wir glotzen, bis es aus unseren Köpfen raucht und wir hinter jeder Tür Freddy Krueger, Zombies, Halloween-Masken, todbringende Nebel oder Monster sehen. Selbst meine Mutter, die Horrorfilme am Anfang ablehnte, schaut sich den Scheiß an. Es gefällt ihr sogar. Sie empfindet es nicht als bedrohlich. Weder für mich noch für sich selbst. Sie amüsiert sich köstlich.
Es ist aber bedrohlich. Ich fürchte mich entsetzlich, wache schweißgebadet aus meinem ohnehin schon schlechten Schlaf auf. Nicht ein Fitzelchen meines Zehs darf unter der Decke hervorragen, damit niemand danach greifen kann. Wenn ich nachts auf die Toilette muss, überlege ich eine halbe Stunde, ob ich es nicht doch lieber aushalten soll. Ich versuche meine Blase zu trainieren, durchzuhalten. Das Scheitern beginnt. Ich schalte alle Lampen an, die vom Bett aus zu erreichen sind, und wecke meine Mutter. Sie muss mich aufs Klo begleiten, als wäre ich drei Jahre alt. Sie glaubt, dass ich irgendein Emigrantentrauma durchmache, dabei ist es nur die Glotze. Ich sage es ihr nicht, weil sie mir den Fernseher verbieten würde.
Wir quälen uns durch selbstverschuldete Idiotie.
MEIN ONKEL IST EIN IDIOT DER EXTRAKLASSE
»Ich konnte nichts tun, Nado! Tut mir leid!«, verteidigt sich der Bruder meiner Mutter, als sie ihn anruft. »Wir müssen sofort auflegen! Das ist gefährlich, was ich da tue. Wenn sie mich hören, bin ich erledigt!«, schreit er paradoxerweise ins Telefon.
Ich finde es praktisch. So kann ich mithören, was er sagt.
»Warte, nein! Warte doch. Eine Sekunde. Was heißt das, dass du nichts tun konntest!«, fragt Mutter eindringlich.
»Ich hatte Angst! Ich hatte das Gefühl, dass jeder Bescheid wusste!«
»Wie!«
»Alle schauten aus den Fenstern!«
»Wer?« Mutter sieht rot.
»Alle! Alle deine Nachbarn! Das ganze Haus! Die ganze Siedlung.«
»So ein Quatsch, niemand wusste etwas, das bildest du dir ein!«, stottert sie hektisch. »Was hast du denn mitgenommen, irgendetwas hast du doch mitgenommen, oder? Du hattest vierzehn Tage Zeit, Jardo! Niemand konnte dich sehen. In der Nacht pennen alle!«
»Nichts! Das ging nicht. Wie oft soll ich’s dir noch sagen?«
»Das glaub ich nicht! … Und der Kleinkram? Fotos?«
»Sie haben alles beschlagnahmt. Die Wohnung ist leer, Nado. Die Tür ist versiegelt!«
Mama zittert.
»Jardo! Du hättest sie nehmen können, bevor die Polizei etwas wusste! Und zwar vierzehn Tage lang, verdammt noch mal!«
»Schrei mich nicht an. Ich muss aufhören! Komárek kommt rein.«
Er legt auf. Er legt einfach auf, ohne uns zu erklären, weshalb er in diesen 14 Tagen nicht imstande war, ein einziges Foto von uns zu retten. Wir stehen sprachlos da, sind verzweifelt. Wie konnte er so versagen? Wir verstehen es irgendwie, wir kennen Jarek, den Angsthasen, und sind dennoch schockiert. Ein Mann kommt zu der Telefonzelle, in der wir stehen. Er möchte telefonieren, wir räumen den Platz. Draußen braut sich ein Gewitter zusammen. Die Landschaft wird bei jedem Blitz hell erleuchtet, die Luft steht. Es sieht aufregend aus. An der Luft fühle ich mich besser, falls ein Blitz einschlagen möchte, hat der Mann in der Telefonzelle schlechte Karten.
Privatfotos, Tagebücher, Briefe, Mamas Zeichnungen, Zeugnisse – alles weg! Ein unvorstellbarer Verlust. Unsere Vergangenheit ist weg. Gestohlen, gelöscht, ausradiert. Ich wurde mit siebzehn und Mama mit neununddreißig geboren. Es gibt kaum Beweise für ein Leben »davor«. Was passiert mit den persönlichen Dingen? Alle sonstigen Gegenstände aus der Wohnung werden vom Staat beschlagnahmt, das wissen wir, aber wo landen unsere persönlichen
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