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Paradiessucher

Paradiessucher

Titel: Paradiessucher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rena Dumont
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mutterseelenallein im Westen und spricht zu oft über Esoterik. Ihre Haare sind pechschwarz, und sie behauptet, sie seien echt. (Die Haare sind aber gefärbt, meine Mutter ist Profi in Frisurangelegenheiten.) Sie wäre gern eine Hexe, dann hätte sie Macht über andere und könnte Abrakadabra über einem Kochtopf murmeln, um uns einzuschüchtern. Ha! Alles Quatsch. Sie kann noch so viele Steinchen, Wässerchen und Symbole sammeln, für uns bleibt sie ein tschechisches Persönchen aus Liberec, das keinen Bock mehr auf seine Mutti hatte.

DER ALLTAG DER VERWIRRTEN MENSCHEN
    Eine kräftige Portion Optimismus und Gelassenheit braucht man, sonst geht man hier unter. Unsere Zimmertür hat kein Schloss, von einem eigenen Schlüssel können wir nur träumen. Ich bin heilfroh, mir ein oberes Bett erkämpft zu haben, in der unteren Etage könnte ich vor Angst nicht schlafen, weil die Tür die ganze Zeit einen Spalt offen steht. Das ist nicht ungefährlich. Eine Menge merkwürdiger Typen geistert, betrunken oder auch nicht, durch die Gänge, und man weiß nie, ob sie nicht auf die dumme Idee kommen, uns um drei Uhr nachts einen Besuch abzustatten. Das andere Problem ist die Enge. Die Enge kann grausam sein, sie kann Zuneigung schnell in Aggression verwandeln. Es gibt keine Fluchtmöglichkeit. Wir sind ja schon auf der Flucht. Wir müssen uns ertragen.
    Eines Tages stellt Mutter fest, dass ihre gesamte Unterwäsche fehlt. Wir verdächtigen die Diebin. Doch sie haut uns beinahe auf die Schnauze und verteidigt sich wie eine Löwin. Keine Ahnung, warum sie so vehement reagiert, sie nennt sich schließlich selbst »die Diebin«.
    Sie war es wahrscheinlich tatsächlich nicht.
    Ich biete Mama meine Wäsche an, sie will sie aber nicht. Lieber kauft sie sich von der Diebin ein paar gestohlene Unterhosen in Größe XS, weil sie nur noch Haut und Knochen ist. Sie versteckt ihr Hab und Gut im Bett. Der Rest kommt in den Fiat. Der birgt einige Versteckmöglichkeiten und ist abschließbar.
    Heute ist Freitag. Heute gibt es Geld. Alle sind heiß darauf, denn seit einer Woche hat keiner mehr einen Pfennig in der Tasche.
    Dann wird wild eingekauft. Familien kaufen Lebensmittel, die es nicht im Lager gibt, nach denen sich aber ihre Mägen sehnen. Zum Beispiel Süßigkeiten. Männliche Singles kaufen Alkohol und Zigaretten, die weiblichen Zigaretten und Drogerieartikel.
    An so einem Freitag torkeln Alkoholisierte die Gänge auf und ab. Der Frust des ewigen Wartens, die Passivität wird im Alkohol ertränkt. Die braunen Flecken an der Wand sind Blut. Die Albaner schlagen sich mit den Jugoslawen, die Tschechen mit den Polen, die Slowaken mit den Jugoslawen, die Polen mit den Albanern und so weiter. Die Kombinationen scheinen unendlich, und es wird nie langweilig. In Einem sind sich alle immer einig: das Schlägereiritual nicht ausfallen zu lassen. Es muss immer irgendwas gerächt werden. Keine Ahnung was. Ich gewöhne mich mit der Zeit daran, bin nicht mehr so verstört, wenn dicht hinter unserer Tür heftige Pöbeleien zu hören sind, die mit Gewalt enden. Einmischen darf man sich auf gar keinen Fall, sonst riskiert man den eigenen Kragen.
    Ich fange an zu rauchen. Das Zimmer drei Türen neben uns, das voller junger Männer ist, gefällt mir und anderen Mädels besonders gut. Ein heißbegehrter Ort, ein Treff sozusagen. Ich sitze auf dem Sperrmüllsofa, zwischen einem Albaner und Lydia. Es ist erstaunlich, wie schlagfertig und dumm dieser Albaner in alkoholisiertem Zustand ist, während er nüchtern zahm ist wie ein Lamm. Er dreht mir eine Zigarette. Eine sehr dünne, so wie ich sie mir wünsche. Er meint, dass es gar keine Zigarette sei, es sei fast nichts drin, ich müsse überhaupt kein schlechtes Gewissen haben. Das beruhigt mich, denn meine Mutter darf niemals erfahren, dass ich Zigaretten auch nur anfasse. Sonst hätte sie mit ihren ewigen Belehrungen recht: »Ach wart mal ab, du fängst auch irgendwann mal an. Warte nur ab.«
    Und solche Sprüche. Ich möchte ihr nicht das Gefühl geben, recht zu haben. Das ist mein Problem. Außerdem denke ich, dass sie mir mit siebzehn nichts mehr verbieten kann. Ich bin eine Erwachsene, und mein Standpunkt zu Zigaretten verändert sich eben. Sie raucht selber drei Päckchen am Tag.
    Ich rauche die Zigarette, die gar keine ist. Huste nicht. Merkwürdig, wieso husten die Menschen, wenn sie zum ersten Mal rauchen? Sie schmeckt mir, und ich finde mich lässig, erwachsen. Der Albaner betätschelt mich nicht,

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