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Paradiessucher

Paradiessucher

Titel: Paradiessucher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rena Dumont
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ihrer Heimatsprache entschieden haben, ergreift erneut die Initiative. Ein neuer und vielleicht letzter Anlauf, bevor er abzischen und das absolute Desinteresse manifestieren wird. »Chris, Alev und ich würden euch mit dem Auto abholen, falls der Transport ein Problem sein sollte.«
    Das überlebe ich nicht. Das ist mir zu viel. Bei der Vorstellung, dass diese ahnungslosen Jünglinge zum Asylantenlager fahren und sehen, wo und wie wir wohnen, sich von den Lagersaufbolden, Jugo-Tussen, Tschechen-Landpomeranzen, Slowaken-Gammlern, Polaken-Gören und Albaner-Schlägern beglotzen lassen müssen – denn so was spricht sich sofort herum –, wird mir ganz anders.
    Ich erinnere mich nur zu gut, wie Christa auf dem Hof auf mich wartete. Die gesamte Lagermannschaft schaute zu, nein, das ist ein schwacher Ausdruck, sie fieberte mit wie bei einem Tennismatch. Wahrscheinlich würden sie uns für unterwegs Schnitzel im Graubrot mitgeben, damit wir ja nicht verhungern, dazu eine Thermosflasche mit Tee, und uns zu guter Letzt wohlmeinend eine Porno-Kassette in die Hand drücken, damit wir wissen, wie wir alles richtig machen – natürlich inklusive geklauter Kondome, denn unsere Jugend hängt am seidenen Faden. So geschmackvoll können sie sein, unsere Zuschauer. Ich kenne sie. Das wäre mein Ende. Nein. Niemals!
    »Ja, super!«, antwortet Lydia wie aus der Pistole geschossen, nickt zufrieden mit dem Kopf und lächelt den Albino an.
    Ich erkenne sie nicht wieder.
    »Ja, cool, dann holen wir euch um sieben ab, okay?«
    »Ja, super!«, sagt Lydia unverfroren, und meine Nackenhaare stellen sich auf wie Soldaten.
    »Wo wohnt ihr genau? Wo in Königssee?«
    Wir schauen uns an und machen beide mit unseren Köpfen ein Zeichen, das bedeutet: »Sag du …«
    Keine sagt was.
    »Wo in Königssee?«, buchstabiert Mark überdeutlich, weil er denkt, wir Hühner würden nichts, aber auch gar nichts verstehen. Dabei haben wir in den vergangenen Wochen erstaunliche Fortschritte gemacht.
    Ich hole mit humorlos ernster Miene tief Luft und bin entschlossen zu sagen: »Wir wohnen …«
    Nun fällt mir, verdammt noch mal, das Wort »wohnen« auf Deutsch nicht ein, obwohl es Mark vor einer Sekunde selber ausgesprochen hat. Typisch, das passiert mir immer wieder, dass mein ausgebranntes Hirn im entscheidenden Moment kolossal versagt. Ich drehe mich geschwind zu Lydia: »Wie heißt Kruzifix ›wohnen‹ auf Deutsch, verdammt. Glotz mich nicht an und hilf mir, wenn du so eine große Klappe hast! Das hast du uns eingebrockt, und ich soll die Suppe auslöffeln, was? Wenn du es mir nicht sofort sagst, dann, dann, dann … mach schon!«
    »Was dann?«, antwortet Lydia in ihrer kaiserlichen Ruhe und provoziert mich mit einem herausfordernden Blick.
    Ihre Spezialität. Da ist sie echt gut drin.
    »Dann, dann rutsche ich nie wieder mit dir! Mein Ehrenwort!«
    Panik überfällt meine slowakische Freundin. Ha! Sie liebt die Rutscherei und antwortet sofort: »Ich weiß es auch nicht!«
    Mark verdreht die Augen und ist gewillt zu gehen. Ich fasse ihn schnell am Arm, was höchst erregend auf uns beide wirkt, und sage schließlich: »Wir sind hinter Känigsä, bei die Boote, bei der Wasser.«
    »Am See? Direkt am See?«, antwortet Mark mit einer starken Rötung im Gesicht, was bei seiner Blässe fabelhaft deutlich zu sehen ist.
    Ich halte nämlich noch immer seinen Arm fest.
    »Ja, am See. In Hotel. Der Name ist Sporthotel. Alle in Känigsä kennen Sporthotel.«
    »Im Hotel, holla, ganz schön nobel, was?
    »Nein nobel …«, gebe ich kleinlaut zurück.
    »Na gut, dann kommen wir um sieben zum Sporthotel. Okay?«
    »Okay.«
    Das Schlucken in unseren Kehlen kann keiner überhören. Ich weiß auch nicht, weshalb ich bei solchen Albernheiten so aufgeregt bin. Schließlich war ich seit meinem fünfzehnten Lebensjahr mit Jungen zusammen, bin mit Männern also erfahren, für mein Alter sogar zu erfahren. Also nicht leicht aus dem Häuschen zu bringen. Vielleicht, weil ich zum ersten Mal in diesem fremden Land einen Deutschen anfasse, weil ich mich im Deutschen ununterbrochen blamiere, vielleicht, weil Lydia, genauso wie ich, die Sitten unter Jugendlichen in Deutschland nicht kennt, weil wir Minderwertigkeitskomplexe haben, unserer Herkunft und der finanziellen Misere wegen, oder weil ich Mark heimlich vergöttere? Ich denke, ich liebe Chris?! Ein Salat im Kopf.
    Was sollen wir uns im Auto erzählen? Wie soll es überhaupt gehen? Wie soll man sich den Deutschen annähern?

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