Paradiessucher
Das scheint auf einmal so anstrengend, schwierig und unerreichbar zu sein, dass ich am liebsten weglaufen würde.
»Und was wirst du jetzt machen, Lydi? Deine Alten erlauben es dir eh nicht, und dann stehe ich da wie ein Idiot.«
Ich setze mich auf die Tüte und sause hinunter.
»Dann musst du alleine hingehen …«, ruft Lydia hinter mir her. Sie wird immer kleiner, ich verstehe sie kaum, weil ich mich gerade an der steilsten Stelle befinde und wie der Blitz den Berg hinunterrutschte. Herrlich!
»Nein, meine Liebe, du gehst mit, koste es, was es wolle«, kreische ich in den Himmel, sodass alle Waldtiere in der Umgebung flüchten, und halte das Gesicht der Sonne entgegen, ohne zu sehen, wohin ich rutsche.
Ich kenne diese Strecke gut, ich vertraue ihr. Unten angekommen, sitze ich wie ein Sack Kartoffeln auf meiner ramponierten Aldi-Tüte und warte auf Lydia.
»Und was ziehst du an?«
Sie spricht eine äußerst schwierige Frage an.
»Jesusmaria! Schnell, wir müssen ins Lager.«
Die Modenschau zu Hause dauert Stunden und das Auftragen des Make-ups ebenfalls. Unsere Mütter machen keine Anstalten, uns von der Party abzuhalten, was uns beinahe beunruhigt. Sie denken vielleicht, dass wir einen guten deutschen Fang machen? Nanu …?
Das Auto steht pünktlich da, alle drei sitzen drin, und weil im Lager gerade das Abendessen serviert wird, haben die Albaner, Jugoslawen, Tschechen und Slowaken kein besonderes Interesse zu glotzen. Die Leberwurst-Sandwiches scheinen wichtiger zu sein als ihre Neugierde. Alles verläuft erstaunlich harmonisch und nach Plan, selbst unsere Mütter stehen lieber in der Schlange für das Brot, als sich die zukünftigen Schwiegersöhne anzuschauen.
Der Platz vor dem Sporthotel ist stockduster, das kleine weiße Auto steht still, beinahe versteckt in einer Ecke, und ich bereite mir alle möglichen Antworten vor, die ich sicher unterwegs brauchen werde. Vielen Dank. Ich bin siebzehn. Ich heiße Lena Hroz. Das ist meine Freundin Lydia. Ich komme aus Pùerov. Lydia kommt aus Banská Bystrica. Ich möchte etwas trinken. Nein danke. Wo ist die Toilette. Wir müssen nach Hause. Ich habe keinen Freund.
Wir haben uns aufgetakelt, keine Frage, vielleicht ist zu viel dran. Das werden wir bald erfahren. Ich habe Angst, bin verunsichert. Die verdammte Sprache ist so schwer.
Alev fährt. Der beste Freund meines Idols. Achtzehn Jahre alt, also absolut erwachsen im Vergleich zu mir. Unglaublich erwachsen wirken sie auf mich. Gediegene Herren. Alev, der wesentlich männlichere Typ, hätte mir gefallen, gäbe es nicht den androgynen Chris, in den ich verliebt bin. Sein kantiges Gesicht, wie das eines strengen Generals, ist von der Bergsonne braun gebrannt, und die dunklen, stark gewellten kurzen Haare sind glatt nach hinten gekämmt. Die Naturwellchen haben es schwer, sich zu behaupten, so viel Gel klebt auf seinem Kopf. Obwohl ich etwas gegen Gel habe, stört es mich bei Alev natürlich nicht. Er könnte sich auch Marmelade ins Haar schmieren, und ich würde es super finden. Von der Statur her ist Alev stämmig. Ein Schrank. Chris sieht neben ihm knabenhaft aus.
Mark, der Albinojunge, ist ein Nichts in dieser Runde. Einer, der zwei Jahre jünger ist, zählt einfach nicht. Nein, ich vergöttere ihn nicht, die Berührung heute morgen war ein Ausnahmefall. Das wäre sonst zu verwirrend.
Meine Güte, wie aufregend es ist. Lydia und ich sind während der gesamten Fahrt nicht imstande, auch nur ein Wort hervorzubringen. Die Sprachbarriere ist größer denn je. Monströs. Wenn ich richtig verstehe, fragen sie nach unseren politischen Verhältnissen, nach der Emigration, wir antworten aber nicht, weil wir nicht wissen, wie. Zu groß ist das Thema, um es genau und richtig zu erklären, zu ernst und differenziert, um verständlich zu machen, warum wir geflüchtet sind.
Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass es sie interessiert, wir sind zwei Marsmännchen in fliegenden Untertassen. Ich kann aber doch nicht sagen, dass ich gegangen bin, weil wir kein Klopapier hatten?! Das würden sie nicht verstehen, und doch ist das Klopapier einer der vielen Gründe, warum man es drüben satthatte. Ich müsste ihnen auch klarmachen, dass wir uns über viele Dinge ein falsches Bild gemacht haben. Dass wir dachten, das Glück läge hier, dabei ist es anscheinend ganz woanders. Doch das wüssten wir bis heute nicht, hätten wir nicht diese Reise auf uns genommen. Wir wären in Pùerov, in unseren naiven schleierhaften
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