Paradiessucher
Sie kommt in der Caritas-Kleidung, die ich trage, nicht zur Geltung, oder vielleicht doch, nur sehe ich es nicht. Hoffentlich bin ich noch so schmal, wie es mal Mutters Barkeeper Matëj diagnostizierte. Schmal zu sein, das soll doch so schön sein, das ist mein Kapital, meinte der Idiot.
Ich würde gerne wissen, ob Chris deshalb auf mich steht. Ich bin nicht das einzige Mädchen, das ihn gut findet, die meisten aus seiner Klasse sind in ihn verknallt. Der weiblichen Hälfte der Klasse stockt der Atem, wenn Chris unerwartet irgendwo auftaucht.
Ich verliebe mich in diesen Chris. Viel mehr als je zuvor. Ich frage mich nur, ob es normal ist, dass sich die Intensität der Verliebtheit von Fall zu Fall steigert? Wie ist es mit dreißig? Ist die Verliebtheit dann so quälend, so stark, so emotional und unerträglich, dass ich lieber darauf verzichten möchte? Möchte ich dann sofort aus dem Fenster springen? Wie anstrengend und schön. Verliebtheit führt zu Gewichtsverlust. Wie fabelhaft! Eine Diät umsonst. Zwei Fliegen mit einer Klappe.
Christopher, genannt Chris. Achtzehn Jahre alt. Eins achtzig groß. Weiße Porzellanhaut. Feines blondes Haar. Strahlend blaue Augen. Zähne wie aus einem Bilderbuch, brav aneinandergereiht, weißes, perfektes Lächeln. Meine Zähne hasse ich dagegen. Sie sind klein, das Zahnfleisch großflächig, ein Überbiss, den zwar andere nicht wahrnehmen, doch ich kann zwischen die untere und die obere Zahnreihe einen Daumen stecken. Pah. Das quält mich, seit ich denken kann. Ich presse beim Lachen die Lippen verkrampft aufeinander.
Ein Stück meines Schneidezahns befindet sich immer noch im Schlafzimmer einer Zigeunerfamilie. Opa hatte damals in Pùerov, als ich das Radfahren lernte, vergessen, mir zu sagen, dass man nach vorne sehen soll, statt die Pedale zu bewundern. So hätte ich mir die dämliche Aktion mit der Karambolage gespart. Ich krachte damals mit voller Wucht durch das offene Souterrainfenster einer Zigeunerfamilie. Dort irgendwo muss meine Schneidezahnecke liegen. Wenigstens kann keiner behaupten, ich hätte einen eingefallenen Mund.
Aber er, Chris, der Glückliche. Seine Zähne. Farah-Fawcett-Verschnitt. Das Lächeln eines Schauspielers. Eines amerikanischen Schauspielers. Ein straffer muskulöser Körperbau, tiefe, starke, klare, männliche Stimme, zarte, sanfte Bewegungen, und dann seine Nationalität, das hält man im Kopf nicht aus: deutsch und englisch, was für eine Mischung! Ich erzähle sogar Mutter, er sei eine Kreuzung aus Robert Redford und Alain Delon. So attraktiv und wunderschön finde ich ihn. Ich spreche mit meiner Mutter sonst nie über solche Dinge.
»Na, das freut mich, dass deine Jungs jedes Mal wie Alain Delon aussehen, wie machst du das bloß?«, verarscht mich Mutter mit dem Feingefühl eines Metzgers.
Vielleicht ist das der Grund, warum ich ihr nie etwas anvertrauen kann. Im Moment berührt es mich wenig, Chris ist für mich schöner als alle Delons auf der ganzen Welt.
Wie ist es möglich, dass dieser Traumprinz seine Pausen in der 9. Klasse verbringt? Wieso versucht er immer wieder Kontakt zu uns, oder besser gesagt zu mir, aufzunehmen? Wie kommt so ein Delon auf eine Ostblocksocke wie mich? Es ist mir ein Rätsel.
Die anderen Mädchen ignoriert er. Das ist Fakt. Mit Mark, dem Albinojungen, werden zwar wichtige Männerangelegenheiten beredet, doch kurz danach landet Chris an meiner Schulbank. Ich weiß es vorher, ich weiß, dass er meinetwegen das Theater veranstaltet, und er weiß, dass ich es weiß. Der Liebesengel mit seinem goldenen Pfeil trifft mich mal wieder mitten ins Herz. In Lydia rührt sich nichts. Oder sie gibt es nicht zu.
SCHWEIGENDE ÖLSARDINEN IM AUTO
»Kommt ihr heute Abend zur Abschlussparty?« Mark beugt sich lässig zu uns, als Chris weg ist und die Spannung im Klassenraum nachlässt. Die Mädchen packen endlich ihre Pausenbrote aus und beißen gierig hinein. Jetzt müssen sie nicht mehr cool sein.
»Party? Heute?«, stammeln wir beide durcheinander.
Ich schaue Lydia mit Irrsinn in den Augen an und sage auf Tschechisch: »Oh Gott, das geht doch nicht. Das macht meine Mutter nicht mit.«
»Und meine erst! Deine ist wenigstens modern, aber meine lebt im Steinzeitalter! Und vor allem bist du schon siebzehn.«
»Ja, das stimmt. Alleine gehe ich aber nicht. Auf gar keinen Fall!«, flüstere ich.
Mark, der allmählich anfängt, zappelig zu werden, denn es ist nicht cool, nur dazustehen und zu warten, bis sich die Weiber in
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