Paraforce 6 - Die Stunde der Bestie
noch still und düster.
Licht spendete lediglich die aufgehende Sonne, deren erste Strahlen es ihm ermöglichten, vage die Umrisse der Einrichtung zu erkennen. Nachdem sich seine Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten, konnte er unter der Tür neben der Theke einen schwachen Lichtschein ausmachen. Es war also zumindest schon mal jemand in der Küche.
Er wollte sich gerade auf den Weg dorthin machen, als die Stille des Morgens unverhofft durch das Klirren von Geschirr zerrissen wurde.
Oh je, das war nicht ein Teller, das war mindestens ein Dutzend. Mit zwei, drei schnellen Schritten war er an der Tür und riss sie auf. Andrea Steinbrenner stand mitten in der Küche und starrte fassungslos auf das zerschlagene Geschirr. Doch während Tobias über den Anblick des Scherbenhaufens auf den Fußboden nur erstaunt war, schien der Pensionswirtin die Betrachtung des Malheurs die Tränen in die Augen zu treiben.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Tobias leise.
Andrea Steinbrenner zuckte zusammen und starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an wie einen Geist. Offensichtlich hatte sie ihn erst jetzt bemerkt.
»Es tut mir leid, ich wollte Sie nicht erschrecken«, sagte Tobias und setzte ein beruhigendes Lächeln auf. Er wollte sie nicht noch mehr verängstigen.
»Wo kommen Sie denn auf einmal her?«, fragte sie mit zittriger Stimme.
»Sie haben mir gesagt, dass es ab sieben Uhr Frühstück gibt. Okay, ich bin zehn Minuten zu früh dran, aber ich habe mich trotzdem gewundert, dass hier noch alles dunkel ist. Tja, und dann habe ich den Krach gehört und darum bin ich jetzt hier. – Soweit alles in Ordnung?«, fügte er einen Atemzug später mit einem Lächeln hinzu, in das er eine gehörige Portion Charme legte, um die Frau, die offensichtlich momentan etwas durcheinander war, zu beruhigen.
»Gar nichts ist in Ordnung«, sagte Andrea und wischte sich schniefend eine Träne aus dem Augenwinkel.
Ohne eine weitere Erklärung wandte sie sich um und öffnete den Putzschrank. Beinahe trotzig schnappte sie sich Besen und Schaufel und beugte sich vor, um das Dilemma zusammenzukehren. Tobias verspürte wieder jenes Kribbeln im Bauch, als er sah, wie sich dabei die Jeans über ihrer äußerst ansehnlichen Schokoladenseite spannte. Eigentlich war er dem Teenageralter schon lange entwachsen, und er war bisher auch der Meinung, seine Gefühle besser unter Kontrolle zu haben, aber seit ihrer ersten Begegnung bekam er diese Frau einfach nicht mehr aus dem Kopf.
Andrea hatte inzwischen die Scherben beseitigt und sah ihn bittend an.
»Verzeihung, es ist normalerweise nicht meine Art, dass ich Gäste warten lasse. Aber heute scheint wohl nicht mein Tag zu sein.«
»Wie darf ich das verstehen?«
»Meine Küchenhilfe hat verschlafen, der Koch sich mit dem Messer so tief in den Finger geschnitten, dass es genäht werden muss, und ich lasse vor lauter Hektik auch noch mein bestes Porzellan auf den Boden fallen. Ausgerechnet heute, wo ich ein Geschäftsessen für zwanzig Personen angenommen habe, stehe ich alleine da. Einkaufen für das Mittagessen, Zimmerservice, Frühstück herrichten und servieren, ich weiß gar nicht, wo ich zuerst anfangen soll.«
»Immer mit der Ruhe. Wie viele Gäste kommen denn zum Frühstück?«
»Sie sind momentan der Einzige, die anderen sind gestern wieder abgereist.«
»Na also, wo ist das Problem? Sagen Sie mir, wo was steht, und ich helfe Ihnen. Als Junggeselle bin ich es gewohnt, mir mein Frühstück selber zu machen.«
»Aber …«
»Nichts aber«, widersprach Tobias. »Frühstücken Sie mit?«
Ihr zögerndes Lächeln als Einverständnis wertend ging er geradewegs auf den offenen Geschirrschrank zu und schnappte sich zwei Teller mitsamt Tassen und Unterteller.
»Wo finde ich Besteck?«
Kopfschüttelnd deutete Andrea auf die Schubladen im Mittelteil des Geschirrschranks.
»Sie sind unmöglich.«
Tobias grinste und verteilte das Geschirr auf einem kleinen Beistelltisch neben dem Herd.
Das anschließende Frühstück verlief zunächst in vollkommenem Schweigen. Allerdings ertappte er Andrea immer wieder dabei, wie sie ihn nachdenklich musterte.
Er war erfahren genug, um ihren Blick richtig zu deuten.
Bleib ruhig, Junge, ermahnte er sich.
Dass sie jetzt gemeinsam frühstückten und sich zueinander hingezogen fühlten, änderte nichts an der Tatsache, dass sie sich eigentlich fremd waren. Sie hatten sich am Sonntag zum ersten Mal in ihrem Leben gesehen.
Trotzdem hätte er sie am liebsten in die
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