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Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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…«
    »Gewusst, gewusst – das ist doch egal! Sie müssen doch mitgekriegt haben, was das für Leute sind, die freuen sich über jeden Scheiterhaufen, der brennt, über jeden toten Aleviten, das müssen Sie doch gemerkt haben, dass die lügen, da muss man doch mit Blindheit geschlagen sein!«
    »Aber ich sage Ihnen …«
    »Hören Sie auf mit der Scheiße, ich will nichts mehr hören«, brüllte Cengi und schüttelte seine Fäuste. »Ihnen ist es doch völlig egal, wen Sie vertreten, für Geld machen Sie alles!«
    Die Tür flog auf, zum zweiten Mal, und das Madengesicht packte Cengi, drehte ihm einen Arm auf den Rücken. »Na, dann wollen wir mal, Bürschchen, so geht das nicht!«
    »Moment mal«, warf Schlüter ein. »Wir sind noch nicht fertig, Herr …, einen Augenblick noch, Herr Cengi wird sich beruhigen, er wird …«
    Cengi, der verdreht zwischen den Fäusten des Beamten hing, warf einen geringschätzigen Blick auf Schlüter und sagte: »Mit dem da will ich nichts mehr zu tun haben. Bringen Sie mich in meine Zelle.« 

30.
    Mit hängendem Kopf schlich Schlüter in sein Büro zurück. Er setzte sich hinter seinen Schreibtisch, legte den Völkermordstein vor sich hin. Ein grauer Stein, aus dem weiße Punkte hervortraten, aber auch ein brauner Schimmer war zu sehen, ein flacher Stein, vielleicht drei Zentimeter stark, auf der einen Seite rund, auf der anderen gerade, ungefähr geformt wie das Viertel eines Ovals, mit Falten an der geraden Seite, die, millionenfach vergrößert, einen steilen Kletterfelsen abgeben würden.
    Schlüter stand auf, ging zur Teeküche und ließ Wasser über den Stein laufen. Angela kam und goss sich einen Pfefferminztee ein.
    »Was machen Sie denn da?«, fragte sie.
    »Ich mache meinen Völkermordstein nass.«
    »Ihren was?«
    »Völkermordstein.« Er schleuderte die Wassertropfen ab. Das Grau des Steines war eine Nuance dunkler geworden, aber der Stein hatte seinen Charakter nicht verändert. »Dies ist ein Stein, der Zeuge eines Völkermordes gewesen ist. Er hat viele Menschen sterben sehen. Und er schweigt.«
    Angela musterte ihren Chef aus großen Augen. Es kam vor, dass er sie mit Rechtsfragen aus seinen Prozessen behelligte, weil er die Kollegen mied, sie hatte ja nach all den Jahren auch etwas Einblick. Aber so hatte er noch nie geredet.
    »Haben Sie auch einen Tee für mich?«, fragte Schlüter.
    »Pfefferminztee?!«, fragte sie ungläubig. Sie begann, sich ernsthaft Sorgen zu machen.
    »Scheißegal«, sagte Schlüter müde. »Irgendwas.«
    Schlüter wartete, bis Angela ihm eine Tasse hingestellt hatte, schlürfte von dem Tee und dann begann er, von Adaman zu erzählen, vom Völkermord im Dersim, er berichtete alles, was er wusste, zuletzt von dem Gespräch mit Cengi.
    »Ist ja fürchterlich«, sagte Angela zwischendurch. »Ach wie schrecklich.«
    Es gibt Dinge, dachte Schlüter, die verhöhnt man, wenn man sie in Worte fassen will, weil die Worte nicht passen, weil sie abgenutzt sind. Es gibt Gefühle, für die es keine Worte mehr gibt, und es gibt Tatsachen, für die es keine Worte mehr gibt, sie sind alle schon verbraucht. Der Stein, den er in der Hand hielt, wusste das. Er schwieg und duldete.

    »Und jetzt habe ich auch noch diesen verdammten Prozess mit dem verdammten Gül gewonnen!«, stöhnte er zuletzt. »Was haben die eigentlich gesagt, als Sie sie angerufen haben?«
    »Ich habe mit dem Alten gesprochen. Er hat gesagt, er habe gewusst, dass seinem Neffen Gerechtigkeit widerfahren werde.«
    »Gerechtigkeit! Schöne Gerechtigkeit! Was soll ich denn jetzt machen?«
    »Der Beschluss ist heute mit der Post gekommen.«
    »Zeigen Sie her. Ist egal jetzt, dann kann ich ihn genauso gut lesen.«
    Angela ging ins Schreibzimmer und kehrte mit dem Beschluss in der Hand in die kleine Teeküche zurück. Schlüter überflog den Text:
    In der Auslieferungssache gegen den türkischen Staatsangehörigen Emin Gül hat der 3. Strafsenat durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Celle … auf den Antrag der Generalstaatsanwaltschaft, die Auslieferung des Verfolgten an die türkische Regierung zum Zwecke der Strafvollstreckung für zulässig zu erklären, nach Anhörung des Verfolgten vom 10. Januar 1995 beschlossen:

    Die Auslieferung ist unzulässig.

    »So ein Mist«, erklärte Schlüter und ließ das Papier auf den Tisch segeln. Er hatte wahrhaftig schon manche Mandanten vertreten, mit denen er nicht übereinstimmte, er war sicher schon oft das unwissende Werkzeug eines

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