Paragraf 301
Betrugs gewesen, aber diese Geschichte war die Krönung. Er hatte einem türkischen Verbrecher die nötige Freiheit verschafft, um ein weiteres Verbrechen begehen zu können: Er, Schlüter, war verantwortlich für den Tod des Veli Adaman. Einen schlimmeren Parteiverrat hatte noch nie ein Rechtsverdreher begangen. Rathjens hatte recht: Schlüter der Rechtsverdreher. Herzlichen Glückwunsch! Der Überlebende eines Völkermordes, dessen Mutter unter einem Berg von Leichen herausgekrochen war, halb wahnsinnig vor Angst, Verzweiflung, Durst und Hunger, den Sohn einsam in der Fremde geboren hatte, dieser Mann, der Lehrer geworden war, um den Kindern seines Volkes die verbotene Muttersprache zu lehren, der ein zweites Mal hatte fliehen müssen, sich fern von seiner Familie als rechtloser Hilfsarbeiter durchgeschlagen hatte – er war ermordet worden, weil er, Schlüter, seinem Mörder die Freiheit dazu verschafft hatte. Und jetzt lief dieser Mörder frei in Hemmstedt herum in seiner knarrenden Lederjacke und freute sich auf seine Hochzeit am kommenden Samstag!
»Scheiße verfluchte!«, rief Schlüter und hieb den Stein in die Tischplatte.
Angela, die seinem Brüten still zugesehen hatte, fuhr zusammen. »Beinahe hätten die Ihren Antrag abgewiesen …«
»So?«, keifte Schlüter. »Und was nützt das? Geben Sie her!«
Er las:
Der Senat hat zwecks Untersuchung der Beweislage sowohl die Urteile als auch die durch den ersuchenden Staat übersandten Ermittlungsergebnisse ausgewertet. Er vermag aufgrund der vorgelegten Beweismittel nicht festzustellen, dass der Verfolgte im türkischen Verfahren zweifelsfrei überführt wurde, an dem Brandanschlag auf das Hotel Madımak (sei es durch aktive Handlungen, sei es durch die bloße Anwesenheit vor Ort und die dadurch bedingte Behinderung der Sicherheitskräfte) beteiligt gewesen zu sein. Nach seiner – dem Senat vorliegenden und auch in den Gerichtsurteilen mehrfach wiedergegebenen – Einlassung vor der Polizei und Staatsanwaltschaft ist der Verfolgte indes im Verlauf des Nachmittags wieder zu seiner Arbeitsstelle zurückgekehrt und bei den anschließenden Ereignissen vor dem Hotel Madımak nicht mehr anwesend gewesen; hierfür hat der Verfolgte im Ermittlungsverfahren seinen damaligen Arbeitgeber und seine Kollegen als Zeugen benannt. Dass und mit welchem Ergebnis diese Alibibehauptung überprüft worden ist, lässt sich den übersandten Ermittlungsergebnissen nicht entnehmen. Die Widersprüche des Verfolgten zu seiner Arbeitsstelle und seinem Arbeitgeber geben zwar Anlass zu erheblichen Zweifeln an der Wahrheit seiner Einlassung, jedoch rechtfertigen die vorliegenden Indizien die Befürchtung, dass die strafrechtliche Ahndung – mangels konkreter Beweise einer Anwesenheit bei den Ausschreitungen vor dem Hotel – an ein Verhalten im Vorfeld des Brandanschlags anknüpft, das ohne die Anwendung der Staatsschutzvorschrift nicht mit einer derart hohen Strafe belegt worden wäre, mithin aus politischen Gründen härter als sonst sanktioniert wurde …
»Anlass zu erheblichen Zweifeln an der Wahrheit seiner Einlassung – die Stelle meinen Sie, nicht?«
Angela nickte.
»Tja und?«, seufzte Schlüter. »Ich sag doch: Das nützt nichts mehr. Die Sache ist gelaufen. Alles ist gelaufen.«
»Vielleicht nicht ganz …«, sagte Angela vorsichtig.
»Wie meinen Sie das?«
»Na ja«, überlegte sie. »Man könnte ja die Zeugen befragen, die er angegeben hat, und dann wüsste man, ob er gelogen hat. Und wenn er gelogen hätte, dann wüsste man, ob er bei der Sache in dem Hotel dabei war, denn wozu sollte er sonst lügen. Und wenn er nicht gelogen hat, dann war er nicht dabei. Und wenn er nicht dabei war, dann hatte er auch keinen Grund, Veli Adaman zu töten. Weil er von Adaman nichts zu befürchten hatte. Oder?«
Schlüter schlürfte Pfefferminztee.
»Mhh«, murmelte er dann. »Da ist was dran. Das ist logisch. Aber wie soll man das je rauskriegen? Zeugen – in der Türkei.«
»Man fährt hin und fragt sie, ganz einfach.«
»Ganz einfach?! Sie wollen doch wohl nicht sagen, ich soll in die Türkei fahren und selbst …?« So etwas Naives hatte er schon lange nicht mehr gehört.
»Warum nicht?«
»Hören Sie auf, Angela! Ich bin doch nicht verrückt geworden! Ich kann doch nicht erst den Gül verteidigen und dann hinfahren und Zeugen befragen, die seine Aussage widerlegen und seinen Aufenthaltsstatus kaputt machen. Da leiste ich mir ja noch einen Parteiverrat dazu – diesmal
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