Paragraf 301
der sich mühsam aufächzte. Seine Knie taten weh.
»Zweiter Chef von MHP Sivas«, antwortete Kasım düster, während der Schwarze mit mahlenden Backenmuskeln seine schweren Schmiedehände betrachtete, als bereue er es, den Kunden nicht erwürgt zu haben. Dann ließ er sich mit einem tiefen Seufzer auf das Sofa fallen.
»MHP? Was ist das?«, fragte Schlüter und hatte die Bilder vor Augen: die Fahne, dachte er, der Ring mit den drei …, wenn man doch bloß nicht so ahnungslos wäre in diesem Morgenland. Er tastete nach dem Diktiergerät in seiner Manteltasche.
»Bozkurt«, antwortete Kasım und machte mit der flachen Hand einen Sensenstrich vor der Kehle. Er zog eine Schreibtischschublade auf und holte die zwei Teegläser hervor, die er dort hatte verschwinden lassen.
Der Schwarze schenkte aus und mit dem feinen Plätschern des Tees beruhigte sich die Atmosphäre, auch wenn man nicht wusste, was ein Bozkurt war. Ach Tee, seufzte Schlüter im Stillen, während er resigniert den großen Ölfleck betrachtete, der sich auf seinem Mantel ausbreitete, vorn, wo er auf dem Boden gekniet hatte, ein Himmelreich für eine richtige Tasse Tee, die diesen Namen verdiente, groß genug, um sein Gesicht darin zu versenken, und mit frischer Milch. Er schob den Aufnahmeknopf hoch. Das Gerät müsste auf dem Tisch liegen, dachte er. Sonst nimmt es wahrscheinlich nicht vernünftig auf.
»Was ist ›Bozkurt‹?«, fragte er.
»Graue Wölfe«, erklärte Clever. »Faschisten. Das sind die Leute, die alles bestimmen. Die und das Militär.«
»Woher …?«, wollte Schlüter wissen.
»Später«, wehrte Clever ab, indem er die Luft mit der waagerechten Handkante zerschnitt.
Schlüter drückte das Diktiergerät gegen den dünnen Mantelstoff und sah Kasım fragend an.
»Wenn der Mann euch hier sieht«, sagte Kasım, »kann er sich den Rest denken.«
»Hat er aber nicht«, stellte Clever fest. »Was weiß dein Kollege?«
Kasım sah den Schwarzen unsicher an, sprach einige türkische Sätze, bekam eine lange Antwort und sagte: »Er sagt nur, wenn ihr versprecht …«
»Wir werden schweigen«, antwortete Clever an Schlüters statt. »Er soll erzählen, dann werden wir ihn fragen, was wir weitergeben wollen. Wenn er es nicht erlaubt, werden wir schweigen. Vaat etmekuz.«
Kasım übersetzte. Der Schwarze zögerte, antwortete nur kurz und nickte dabei.
»Ihr habt versprochen«, sagte Kasım.
Clever nickte. »Yemin etmekuz«, sagte er, legte die Unterarme gekreuzt vor seine Hühnerbrust und sah den Schwarzen dabei an.
Schlüter überlegte, ob das nicht zu theatralisch war, aber dann fielen ihm Achmed und der türkische Honig ein, denn dessen Verbeugungen hatten auf ihn ähnlich gewirkt. Clever war Türke geworden.
Kasım ließ zwei Stücke Zucker in den Tee gleiten, rührte und nahm einen Schluck. »Den Tag, als es passiert ist«, begann er, »hat Emin Gül gearbeitet. Hier. Hatte ein paar Monate vorher angefangen. Nach Freitagspredigt ist er mit Adem hierher gekommen. Sie haben zwei Kanister mit Benzin vollgemacht. Sind wieder fort. Sie waren sehr eilig. Kamil hatte hier noch Arbeit und hat beide gesehen. Emin ist dann geschnappt worden. Der Polizei hat er gesagt, dass er die ganze Zeit hier war. Nichts von Benzinkanister. Kamil sollte das bezeugen. Wie nennt man das …«
»Alibi«, half Clever.
»Kamil sollte Emin Alibi machen. Adem war zwei Tage später hier und hat das verlangt. Und Kamil sollte nicht verraten, dass Adem auch hier war und Benzin geholt hat. Und noch mal zwei Tage später war der hier …« Kasım zeigte nach draußen, wo der weiße Wagen gestanden hatte. »Kamil ist nicht einziger Zeuge, von dem man so verlangt hat. Andere sind abgeholt worden. Man hat sie auf der Gendarmerie verhört, sie beschuldigt PKK, obwohl sie nicht waren, denn die meisten sind Türken hier, aber es gibt auch Zaza. Sie haben Leuten Zähne ausgeschlagen. Und andere Sachen gemacht. Viel schlimmer noch. Und welche sind nie wiedergekommen.«
»Und?«, fragte Schlüter. »Was hat – Kamil gemacht?«
»Nichts. Er ist nicht Zeuge gewesen. Gar nicht gefragt worden. Und er musste nicht zum Gericht. Sie haben Emin auch so verurteilt. Gericht – macht mal so, mal so. Wenn die Bozkurt jemandem helfen wollen, müssen sie Leute in der Justiz haben. Das klappt nicht immer. Und die Gerichte verurteilen auch ohne Beweis, wenn sie sollen. Befehl von oben, weißt du. Faschisten, Militär, Fanatiker – weißt du, was gefährlicher ist? Gerichte hier
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