Paragraf 301
Emin Gül wurde mitverantwortlich gemacht für den Tod der Menschen in dem Hotel. So war er nach Deutschland geflohen und hatte Asyl beantragt, denn er werde politisch verfolgt.
»Er ist ein guter Moslem und hat nichts getan«, erklärte sein Onkel. »Einen Batzen Geld kriegen Sie von mir, wenn Sie ihm helfen! Hier in Deutschland würde man niemanden zu zwanzig Jahren verurteilen, nur weil er an einer Demonstration teilgenommen hat.«
Das stimmte. Warum nicht einen guten Moslem vertreten, der nur sein Recht auf freie Meinungsäußerung und Versammlung hatte wahrnehmen wollen?
»Ich muss mit Ihrem Neffen selbst sprechen«, verlangte Schlüter und forderte Kaya auf, sich gleich morgen einen Termin geben zu lassen.
»Werden Sie ihm helfen?«, hatte Kaya gefragt.
»Ich werde es versuchen«, hatte Schlüter geantwortet, worauf Kaya seine Hände mit den kurzen Fingern über den Tisch gefahren und die des Anwalts ergriffen und gedrückt hatte. Der Ring mit den drei Halbmonden blitzte im Neonlicht.
Ein Batzen Geld.
Schlüter nahm die Teetasse vom Fensterbrett, setzte sich auf das Sofa und schlug den Björnsson wieder auf, aber irgendwie interessierte ihn das Buch nicht mehr. Er holte den alten Diercke-Schulatlas und blätterte. Es gab keine ordentliche Karte von der Türkei darin. Der westliche Teil befand sich auf der Europakarte und der östliche im Asienteil, zerrissen zwischen Okzident und Orient. Im Register fand Schlüter aber immerhin den Namen der Stadt und dann stellte er fest, dass Sivas mindestens vierhundert Kilometer östlich von Ankara lag, mehr im Norden des Landes, wohl mitten in einem Gebirge.
Der Schlüssel knirschte in der Eingangstür.
»Gott sei Dank, endlich bist du da«, rief Schlüter, er ließ es nicht zu, dass Christa den Mantel auszog, umarmte sie und sog den Duft ihres Leibes ein. »Wo bist du gewesen? Möchtest du einen Tee?«
»Was ist denn mit dir los?«
»Hast du Die satanischen Verse gelesen?«
»Rushdie? Warum? Nee, weißt doch, was ich lese.« Christa zog die Amerikaner und Engländer vor, las sie meistens im Original, mied aber Bücher, die jünger als dreißig Jahre alt waren, und bewegte sich meistens im 19. Jahrhundert. Die Schinken von Bulwer-Lytton waren ihre Lieblingslektüre. Sie machte sich los und zog ihren Mantel aus.
Schlüter verfolgte sie bis zur Garderobe: »Wir müssen das Buch unbedingt haben. Und am besten auch noch gleich den Koran.«
»Bist du verrückt geworden? Lies erst mal die Bibel!«, amüsierte sich Christa.
»Vielleicht auch das. Und weißt du, was Aleviten sind?«
»Nie gehört. Ich kenne höchstens die Leviten, die man jemandem lesen kann. Was soll das sein?«
»Was? Wer! Gottlose Leute, fürchterliche Menschen. Sittenlose Leute, sie feiern sogar Orgien!«
»Orgien?«, grinste Christa, klapperte mit den Wimpern und legte Schlüter einen Arm um die Hüfte. »Das musst du mir näher erklären …«
»Ich glaube, ich bin da in so eine orientalische Geschichte reingeraten«, murmelte Schlüter.
»Tausendundeine Nacht? Wo der Sultan die Leute köpft, wenn sie was Falsches gemacht haben?«
»Köpfen? Schon möglich. Vielleicht auch verbrennen!«
6.
Sie saßen, schwiegen und tranken Tee, ein Glas nach dem andern, während sich der Abend zur Nacht niederlegte.
Plötzlich hörten sie ein Räuspern vor der Tür. Veli Adaman sprang auf, doch es war schon zu spät, die Tür öffnete sich und drei Männer drängten herein; drei, die es gewohnt waren, ohne Laut zu leben, so wie die, die sie besuchten. Zwei von ihnen waren nicht mehr als mittelgroß und schlank; der erste, der kleinste und jüngste, hatte einen Dreitagebart, ihm folgte ein Mann mit knochigem Kopf und glühenden Augen. Der dritte, ein großer kräftiger Kerl von mehr als mittlerem Alter, mit breiten Schultern und einem grauen Schnurrbart, zog die kreischende Tür hinter sich in die Füllung.
»Guten Abend«, grüßte der Kleine auf Kurdisch; er war offensichtlich der Anführer, denn die beiden anderen hielten sich hinter ihm und nickten nur.
Adaman stand auf, schaltete das Deckenlicht an und antwortete auf Zazaki: »Xêr be sılamet! Grüß dich!«, während er die silberne Sichel, die er wie eine kleine Wiege an einem Kettchen um den Hals trug, ins Verborgene schob und sein Hemd zuknöpfte.
»Wer ist das?«, fragte der Besucher misstrauisch und wies mit einem Blick auf Heyder Cengi.
»Namê dey Murato – sein Name ist Murat. Ein Kollege von mir. Er ist – in Ordnung«,
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