Paragraf 301
Überlieferungen seiner Ahnen bekannt hatte. Alles hat ein sichtbares, aber 72 unsichtbare Gesichter. Die Wahrheit und das Richtige lagen oft nicht offen zutage. Was falsch schien, konnte richtig sein, das Gute kam in der Gestalt des Bösen und umgekehrt. Seine Eltern hatten ihn Veli genannt: Helfer, Beistand, Freund. Das war der Beiname des Propheten Ali und auch des Hacı Bektas Veli, von dem der weise Satz stammte: Was du auch suchst, such es in dir selbst. Wie man Allah gerecht werden konnte, stand in keinem Buch. Man musste es selbst herausfinden. Auch der Koran konnte nicht helfen. Denn der war nicht in seinem ursprünglichen Inhalt bewahrt, sondern redigiert und verfälscht worden vom dritten Kalifen Othman. Allein der letzte Prophet Ali, der Schwiegersohn des Mohammed, hatte den Koran in seiner wahren, verborgenen Bedeutung bei sich bewahrt. Der Mensch musste selbst herausfinden, was richtig und falsch war, er konnte sich nicht auf Vorsager und Vorbeter verlassen, sondern nur auf seinen eigenen Verstand, den Allah ihm geschenkt hatte mit dem Auftrag, ihn zu gebrauchen. Und Adamans Verstand hatte ihm gesagt, dass er so handeln musste, wie er zu handeln beabsichtigte. Denn einerseits würde er stehlen und damit Unrecht tun, aber andererseits – gedachten die Aleviten nicht des Kampfes Alis gegen das Unrecht mit den Worten: Verbeugt euch nicht vor der Ungerechtigkeit? Es reichte nicht, kein Unrecht zu tun. Man musste gegen Unrecht angehen, wo immer man konnte. Und Unrecht war, dass in der Heimat die Muttersprache nicht gesprochen werden durfte. Wer sich vor dem Unrecht nicht beugen wollte, der durfte, ja der musste die verbotene Muttersprache sprechen und sie anderen, die sie nie lernen durften, neu lehren. Und dafür brauchte er das Buch. Denn eines Tages würde er in seine Heimat zurückkehren. Wer seine Sprache nicht spricht, kann nicht richtig denken, und wer nicht richtig denken kann, kann nicht richtig handeln. Der Weg, der nicht durch die Wissenschaft führt, endet in der Finsternis.
Von Clever wusste Adaman auch, dass die Schienen durch einen kleinen Bahnhof in der Nähe des Schlosses führten, und richtig, ein Licht tauchte auf, es blendete und schwankte in der Ferne auf und ab wie die Laterne eines Wanderers. Als Adaman näher kam, erkannte er eine Hütte, ein offenes Häuschen, in dem die Leute auf den Zug warten konnten. Adaman wich dem Licht aus. Er fühlte den Schlüssel in seiner Hosentasche und sah sich um: Der halbe Mond steckte sein blasses Gesicht durch das Geäst der blätterlosen Bäume.
Adaman machte sich daran, die Böschung zum Schloss hinaufzuklettern, mithilfe seiner Hände bahnte er sich vorsichtig einen Weg durch das Gehölz, auf modrigen Blättern und morschen Ästen.
Er zitterte, als er vor dem Kellereingang stand. Wenn ihn jemand hier entdecken würde! Vorsichtig schob er den Schlüssel in das Schloss und drehte ihn um. Clever gegenüber hatte er behauptet, er habe die Schlüssel verloren. Die Tür ließ sich geräuschlos öffnen, das Schloss war gut geölt. Nicht wie ein Schloss, das man nur selten benutzte. Aber umso besser.
Adaman zog die Tür hinter sich zu, schloss sie wieder ab und steckte den Schlüssel in die Tasche. Er stand im Finstern. Er hörte nur seinen Atem und sah nichts. Er tastete sich an der Wand entlang zur Tür in das Treppenhaus, zog sie leise auf. Wärmere Luft strömte ihm entgegen. Er stieg aus den Schuhen, tappte die steinerne Treppe hoch in das Erdgeschoss. Dann stand er im Empfangssaal, im blassen Licht des Mondes, das durch die Fenster fiel. Der Raum atmete immer noch die Gegenwart von Menschen.
In der Mitte der Bibliothek schimmerte die Platte des langen Tisches, den sie hatten stehen lassen. In Zeitlupe zog Adaman die Vorhänge zu. Er wartete, bis seine Augen sich an die Düsternis gewöhnt hatten und die Konturen des Raumes hervortraten, tastete nach einem der Stühle und stellte ihn vor das Regal, stieg hinauf. Nur Ruhe jetzt! Die Lampe, einen kurzen Augenblick durfte er sie anknipsen. Das Licht schnitt einen scharfen Kegel in die Dunkelheit, schnell ließ er den Schein über die braungoldenen, saffiangrünen, karmesinroten, safrangelben Rücken der Bücher gleiten. Da war es! Da stand es wie vor drei Tagen – ein schweres Buch, gebunden in dunkles Schweinsleder, auf dem Rücken den vergoldeten Namen von Verfasser und Titel. Also hatte er nicht geträumt. Er hatte es sich nicht eingebildet. Es gab dieses Buch tatsächlich, in dem zum ersten
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