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Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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Mal die Sprache seines Volkes erklärt, sie all den anderen Sprachen gleichgestellt wurde. Ein Buch, mit dem die Sprache seines Volkes ihr Schattendasein verlor.
    Adaman zog es heraus, stieg vom Stuhl, ließ sich am Fuße des Regals auf den Boden sinken und richtete den Strahl der Taschenlampe auf das Buch, öffnete es. Er las: Karl Hadank, Die Sprache der Zaza in Wort und Grammatik . Leipzig 1932. Sechs Jahre vor dem großen Massaker war es erschienen, fünf Jahre bevor der Vater hingerichtet worden war, gemeinsam mit dem fünfundsiebzigjährigen Seyit Rıza aus Xozat, der nicht durch die Hand des Henkers hatte sterben wollen.
    Der deutsche Forscher war in den Zwanzigerjahren durch die Dörfer gezogen, um die Sprache der Zaza zu lernen, wie sie im Dersim gesprochen wurde. Und nun hielt Veli Adaman das Buch dieses Mannes, das in der Heimat niemand kannte, in seinen Händen. Da waren sie, die verbotenen Buchstaben: das X, das Q , Wörter und Sätze seiner Muttersprache. Warum gab es das Buch des deutschen Sprachforschers nicht in seiner Heimat? Warum hatte es nicht j eder Lehrer in seinem Heim, jede Schule in der Bibliothek?
    In den Dörfern des Dersim durfte seit 1937 in den Schulen und auf der Straße nur Türkisch gesprochen werden, die Kinder, die in die Schule kamen, konnten die Lehrer nicht verstehen, so wenig wie Seyit Rıza das Todesurteil, das man ihm vorgelesen hatte. Wer kein Türkisch konnte, weil man zu Hause nur Zazaki gelernt hatte, war dumm, und so wurden die Kinder in den Schulen beschimpft und verprügelt. Deswegen war Veli Adaman Lehrer geworden. Aber auch er musste Türkisch mit den Kindern sprechen. Man bekam schon Prügel für ein X, das man in den Staub kratzte. Niemand durfte einen Namen haben, in dem ein X vorkam. Und kein Dorf, das in seinem Namen diesen Buchstaben trug, behielt ihn.
    Hunderte Dörfer im Dersim waren zerstört worden, die Schulen geschlossen, das Land entvölkert, Tausende seiner Bewohner deportiert oder geflüchtet. 1938, in den Siebzigerjahren, in den Achtzigern und jetzt, unter Çiller, nachdem Özal tot war, wieder. Die Felder verdorben, die Wälder verbrannt. Und die Kinder lernten weder lesen noch schreiben.

    Kein Volk konnte ohne seine Sprache überleben.
    Adaman blätterte in dem Buch. Er durfte hier nicht sitzen, er musste fort, aber er konnte sich nicht sattsehen an den Reihen von Verben und Substantiven, an den kindischen Redewendungen, mit denen die Sprache erklärt wurde, seine Augen bohrten sich in die Zeilen, die Buchstaben, die Wörter, und während er las, liefen ihm die Tränen über die Wangen.

    No kıtab yê mıno. Dieses Buch ist meins.
    Als er die Stimmen hörte, war es bereits zu spät, obwohl er das Licht sofort löschte.
    Sie mussten durch den Keller gekommen sein wie er selbst. Blitzschnell sprang er zum Fenster. Zu hoch. Zu dunkel, er konnte draußen den Boden nicht sehen. Er würde sich die Knochen brechen. Adaman klemmte das kostbare Buch unter seinen Arm, brachte die Taschenlampe in seiner rechten Hosentasche in die richtige Stellung und kauerte sich neben den Durchgang. Eine Tür, hinter der er sich hätte verstecken können, gab es nicht. In fliegender Hast zog er sich seine Schuhe an. Licht flutete in der Halle auf, es wurde hell.

    Die Stimmen kamen näher.
    »Hier ist nichts mehr drin, was Wert hätte«, sagte die eine Stimme.
    »Sie besaß ziemlich viele Bücher«, antwortete die andere, eine hochmütige, eine alte rauchige Stimme, die Adaman kannte. »Hat ihr Mann gesammelt. Er interessierte sich für Sprachen, glaube ich. So aus dem Orient.«
    »Kann man die verkaufen?«, fragte der mit der jüngeren Stimme.
    »Man kann alles verkaufen. Sicher gibt es hier besondere Ausgaben; die Gräfin sprach öfter davon. Aber wer interessiert sich dafür? Ich kenne mich damit nicht aus.«
    »Wie kommst du denn mit dem Verkauf der Sachen voran?«

    Sie kamen näher. Jetzt standen sie in dem Zimmer nebenan, auch dort ging Licht an. Adaman hörte den bronchitischen Atem des Alten.
    »Hier hat sie immer gesessen übrigens«, sagte der gerade. »Die Sessel waren sehr wertvoll. Alte Schnitzarbeit. Siebzehntes Jahrhundert. Den Verkauf macht der Meschkat. Der Mann von Madaus. Der hat nach überall Beziehungen. Sagenhafter Kerl. Wenn Madaus den nicht hätte …«
    »… dann säße er längst im Knast«, lachte der andere. »Was der alles unter seiner Betriebshalle vergraben hat! War ja praktisch, beim Neubau der Halle die Kosten so gleich wieder

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