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Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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befestigte ihn. Sie hatte einen blauen Einteiler an – Blau war wohl ihre Lieblingsfarbe –, der vorn einen Reißverschluss hatte mit einem großen Klunker dran, den Clever immerzu anstarren musste, ob er wollte oder nicht, denn wahrscheinlich brauchte man ihn nur herunterzuziehen, um die Herrlichkeiten zu sehen, die darunter waren. Wo ihr Mann stecken mochte?
    Judy Collins klimperte mit der linken Hand ein paar Töne. »Es ist ein Seuffert«, erklärte sie. »1830 in Wien hergestellt. Davon gibt’s in ganz Deutschland keine zwei Dutzend mehr. Und ein Klang – das haben seine Nachfolger Ehrbar und Bösendorfer nie mehr erreicht. Er soll nach drüben – in mein Schlafzimmer.«
    Auf den spiegelnden Fliesen ließ sich das Gerät leicht schieben, denn es hatte kleine Räder, und sie schoben es durch die Flügeltüren in die Halle. Anna Dieken nannte den Raum Halle und es war eine Halle. In anderen Häusern waren die Hallen viel kleiner und hießen Flur. Dort ließen sie das Instrument zurück, denn im Schlafzimmer musste erst einmal alles umgeräumt werden, um Platz zu schaffen. Der Flügel sollte dort stehen, wo die Sonne, wenn sie morgens aufging, scheinen würde.
    Damit sie, erklärte Anna Dieken, spielen könne, noch bevor sie sich angezogen habe. »Was Schöneres gibt’s nicht. Was meinen Sie?«
    Es war nicht schwer, sich das vorzustellen. Clever wurde rot, hüstelte und mühte sich, seine anmaßenden Wünsche zu verscheuchen.
    Das Bett – ein französisches, das für einen zu groß und für zwei zu klein war, fand Clever – musste herumgedreht werden.

    Sie würde jeden Morgen spielen, erzählte sie, aber der Flügel müsse erst eingespielt werden, er sei sicher jahrelang nicht mehr gespielt worden von der alten Dame im Schloss. »Mein Mann hat ihn aus dem Nachlass gekauft.«
    Im Leben dieser Leute gab es Hallen, Säle, Schlösser und Flügel. Also doch, dachte Paul Clever. Er sieht nicht nur genauso aus, er ist derselbe.
    »So steht er genau richtig!«, sagte sie schließlich, schloss die Doppeltür zur Halle, setzte sich seufzend auf die Bettkante und sagte, sie sei schlapp und könne nun wahrhaftig ein Bier gebrauchen und ob er es nicht aus dem Kühlschrank in der Küche holen könne, und Clever ging in die Küche, als würde er wohnen in diesem Haus, wie der Herr Oberkreisdirektor, als wäre das alles sein Leben und sein Haus, und die Lichter in der Halle glänzten und blendeten, in der Küche fand er den Kühlschrank und zwei Flaschen Bier. Er durfte eigentlich kein Bier trinken, aber sollte er der Frau jetzt etwa einen Kaffee vorschlagen? Eines würde er schon vertragen.

    Zurück im Schlafzimmer, knackte Clever die Kronkorken mit seinem Plastikfeuerzeug weg, weil der Flaschenöffner fehlte, Anna Dieken kicherte bewundernd und er war ein bisschen stolz, sie klopfte auf das Bett neben sich und befahl, dass er sich neben sie setze, und sie stießen an mit den Flaschen wie Kumpel auf dem Bau und sagten Prost, tranken und stellten die Flaschen auf den Fußboden.
    Und da saßen sie plötzlich, zwei Menschen allein auf der Welt, einander ausgesetzt. Sie hatte wohl an ihrem Klunker gezogen, denn Paul Clever konnte das Tal zwischen den Hügeln sehen, in dem Land von Milch und Honig, wahrscheinlich war ihr bei der Räumerei heiß geworden, denn alles andere war unmöglich, ganz undenkbar, denn nur weil sie ihren Reißverschluss etwas runtergezogen hatte und man ihre Brüste ein bisschen sehen konnte, die übrigens nicht besonders gut eingepackt waren … Clever beugte sich zum Boden und griff nach dem Bier, das er eigentlich nicht trinken sollte, und hielt sich daran fest.
    Sie stand auf und verließ den Raum. Sie kehrte zurück mit einer Kerze in der Hand, die sie ihn anzünden ließ und auf den Flügel stellte. Dann löschte sie das elektrische Licht, fuhr die Jalousien hoch, sie jammerten dabei leise, und setzte sich auf den Schemel, begann zu spielen. Musik, die er nicht kannte, während sich das kleine Licht der Kerze und das große des Mondes miteinander mischten. Die Töne perlten, stiegen empor wie Bläschen im Sekt und sanken wieder nieder, sie vereinigten sich und platzten auseinander, einem Feuerwerk gleich, wie sanfter Regen tröpfelten sie, stürmten wie Pferde und Clever ging mit auf die Reise und vergaß seine kleine Existenz und sogar, dass er im Schlafzimmer der Oberkreisdirektorsfrau auf ihrem Bett saß und gern mit ihr geschlafen hätte.
    »Herrlich«, sagte er.
    »Ja«, sagte sie,

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