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Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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Berge, viele Steine, tiefe Täler, wenig fruchtbares Land, bei uns ist es sehr heiß im Sommer und sehr kalt im Winter. Auf einigen Bergen ist immer Schnee, auch im Sommer. Das Wasser in den Flüssen ist kalt und tief genug zum Ertrinken. Die Natur ist einzigartig, wir haben viele Pflanzen, die es nur bei uns gibt. Und Bären, Luchse … Dort bin ich geboren, 1938.«
    Adamans Stimme war leise geworden, er sprach langsam, mit seltsam steifem Gesicht, tastete nach den Worten wie im Dunkel nach dem Weg, und immer wieder warf er an Schlüter vorbei schnelle Blicke dorthin, wo die Eingangstür war.
    Hızır, wende dein weißes Pferd, eile zu uns! / So komm uns doch in unserer Not zu Hilfe, bleib nicht fern! / Du warst es, der Moses den Weg wies, / komm nicht zu spät in unserer Not!

    Adaman erzählte und Schlüter hörte zu.
    Das Dersim war damals, zu Beginn der Dreißigerjahre, die letzte Region der Türkei, deren Bewohner sich der türkischen Regierung erfolgreich widersetzt hatten. Sie wollten selbstständig bleiben und frei wie von jeher, manche wollten noch nicht mal Steuern zahlen. Die Menschen hatten seit Urzeiten ihre eigene Sprache, Religion und Kultur, seit sie aus dem heutigen Iran dorthin eingewandert waren. Weder den Römern noch den Arabern oder den Mongolen war es gelungen, sich dieses Land in den hohen Bergen zu unterwerfen, und auch die Russen hatten es im Krieg gegen die Türken nicht einnehmen können. 380.000 Armenier versteckten sich 1915 dort, bis die Türken sie aufspürten, deportierten, ermordeten. Manche überlebten, wurden von der einheimischen Bevölkerung versteckt und assimilierten sich. Kein Armenier war im Dersim von einem Aleviten ermordet worden, während drüben in den Bergen bei Bingöl die Kurden ihre armenischen Dorfnachbarn auf Befehl der Türken mit Bajonetten umgebracht hatten.
    »Wir sind Aleviten«, wiederholte Adaman. Er sah Schlüters fragendes Gesicht. »Viele von uns rechnen sich nicht einmal zum Islam, wie soll ich Ihnen das alles erklären, wir sind es nicht gewohnt, über unsere Religion zu sprechen, wir sind immer verfolgt worden, wir haben unseren Glauben durch siebenhundert Jahre mündlich weitergegeben, im Geheimen, deswegen haben wir kaum etwas Schriftliches …«
    Der Mensch sei das Ebenbild Gottes, deshalb seien alle Menschen gleich, egal, welche Hautfarbe, Religion oder welches Geschlecht. Das Gebet: ein Nachdenken über sich selbst. Gott sei in allen Dingen, in den Erscheinungen der Natur, weshalb es heilige Berge, Flüsse, Bäume, Orte gebe. Der Mensch werde wiedergeboren, damit er das, was er in seinem letzten Leben gelernt hat, vervollkommnen könne. Gewalt als Mittel der Auseinandersetzung werde abgelehnt, und nicht Mohammed sei der letzte Prophet, sondern Ali, sein Schwiegersohn, dessen Enkel ermordet worden war in Kerbela … Die Aleviten seien immer als Ketzer verfolgt worden und besonders die, die keine Türken waren.
    »Wie soll ich Ihnen das alles verständlich machen?«, fragte Adaman und breitete seine Hände aus. »Man kann keine Religion einfach so erklären und ich bin es nicht gewohnt, darüber zu sprechen.«
    Als Atatürk die Trennung von Staat und Kirche verkündet habe, erzählte Adaman, seien die Aleviten begeistert gewesen und unterstützten ihn, in der Hoffnung auf religiöse Freiheit. Aber darum war es Atatürk nicht gegangen … Die Türkei gehöre den Türken. Und nur den Türken, das sei sein Wille gewesen. Wer behauptete, anders zu sein, bezahlte mit Tod oder Vertreibung. Alle kleinen Minderheiten seien vernichtet worden: Die Armenier wurden 1915 vernichtet, noch vor Atatürks Herrschaft, aber er habe das Programm fortgesetzt: Zehn Jahre später seien die Griechen, später die Lasen und die Assyrer umgebracht worden. Die Jeziden, die alle Kurden seien, habe man vertrieben, »sie sind alle in Deutschland heute, die meisten in der Gegend von Celle, wussten Sie das?« Die Zaza aus dem Dersim, die sich Dersimi nannten, seien den Türken ein besonderer Dorn im Auge gewesen, »denn wir waren die Letzten, die noch etwas von ihrer Eigenständigkeit bewahrt hatten, und bei uns gab es keine einzige Moschee.«
    Der türkische Zentralstaat beschloss 1937, das Dersim endgültig zu unterwerfen. Das Land sollte entvölkert werden. Türkische Verbände kesselten die Dörfer ein, erzählte Adaman, und wo es möglich war, trieb man die Menschen in Scheunen und verbrannte sie an Ort und Stelle. Andere wurden in Todesmärschen ohne Nahrung und Wasser ins

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