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Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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legte ein anderes Band ein.
    Payiz ama pir ama / Payizo khalo pir ama …, sang eine Männerstimme, begleitet von einer Saz und einer schwermütigen Trommel, mit dem Herbst kam der Pir / mit dem Spätherbst kam der Pir …

    Obwohl das Lied traurig war, freute Adaman sich, lachte Cihan an und sang mit: Es erhoben sich vier Brüder und drei Schwestern zur Semah, sie betraten den Weg der göttlichen Gerechtigkeit und schritten aus, die heiligen Stätten und Höhen zählten sie auf, nach links und nach rechts schwangen sie flügelgleich die Arme … Hay hay!

    Cihan verstand den Text nicht, er war Türke und konnte keine der anderen Sprachen, deshalb sprachen sie Türkisch miteinander. Aber er wusste, dass Adaman die verbotenen Lieder aus der Heimat besonders gerne hörte. Sie hatten sich erst in Hemmstedt kennengelernt und entdeckt, dass sie gemeinsame Freunde in Sivas hatten.
    Adaman sah Schlüter an den Frontfenstern vorbeigehen, erhob sich sofort und winkte ihm entgegen.
    Vor dem dunklen Tresen mit den Zapfhähnen und dem Flaschenregal wirkte Adamans leptosome Gestalt noch größer, seine Haare schienen noch weißer als zuletzt in Schlüters Büro. Adaman gab Schlüter seine verstümmelte Rechte, sie nahmen einander gegenüber Platz. Schlüter legte seine Hände auf den Tisch. Ein bleicher Mensch, dachte Adaman, ihm fehlen Natur und Leben, er hat die Kraft des Geistes und einen guten Willen, aber sein Körper ist schwach. Ein Monat in den Bergen des Dersim würde Wunder tun.
    Der schwere Vorhang hinter dem Tresen in der Ecke des Raumes, ein in Sivas gewebter Teppich, teilte sich geräuschlos, Cihan erschien, nickte Schlüter zu, auf seiner Halbglatze spiegelte sich das Licht über dem Tresen, auf den er zwei Gläser stellte und Tee aus einer kleinen Kanne hineingoss, dazu heißes Wasser aus einer großen. Lächelnd servierte er die Getränke auf einem silbernen Henkeltablett.
    »Bitte, Herr Schlüter«, sagte er und verschwand wieder durch den Vorhang.
    Adaman ließ zwei kleine Löffel mit Zucker in sein Glas gleiten, die kristallenen Körnchen sanken müde zu Boden. Er lächelte: »Ich danke Ihnen, dass Sie hergekommen sind«, sagte er. »Ich muss Ihnen, glaube ich, einiges erklären.«
    »Und warum so schnell? Ist Ihr Neffe …?«
    »Nein. Das ist es nicht. Es ist etwas geschehen und ich weiß nicht, wie lange ich noch … Ich möchte, dass Sie einige Dinge wissen, bevor …«
    Schlüter blieb still, nahm eine Löffelspitze von dem Zucker, rührte und wartete.
    »Als ich kurz vor Weihnachten bei Ihnen war, dachte ich, Sie müssten das alles nicht wissen, aber seitdem …« Adaman holte tief Luft, zog die Zigarettenpackung aus seinem Jackett und brannte eine an.
    »Wir sind Aleviten aus dem Dersim«, begann Adaman zögernd, »und wir wurden schon immer verfolgt.«
    Dein Adler steigt in die Lüfte, sang es aus dem Kassettendeck, es ist Morgen, er fliegt von Berg zu Berg. Weiß ist das Untere seiner Flügel, bestickt das Obere, die Spitzen aus Silber. Er ist der Bote der Vierzig Heiligen.
    »Dersim?«, erinnerte Schlüter sich. »Habe ich auf der Karte nicht gefunden.«
    »Nein. Tunceli steht auf den Landkarten. Aber Dersim heißt unsere Heimat, dorther kommen wir. Dersim, das Silberne Tor. Der heißt Tor, Sim heißt Silber …«
    »Da hört sich ja wie Tür an«, unterbrach Schlüter erstaunt. »Wie das plattdeutsche Dör. Oder wie englisch door.«
    »Unsere Sprache ist indogermanisch«, erklärte Adaman. »Und ist deshalb mit Ihrer verwandt. Wissen Sie, ich war Lehrer in meiner Heimat und ich wünschte mir, es wieder zu sein. Ich habe mich mit diesen Dingen befasst, es gibt viele Gemeinsamkeiten.«
    »Und mit Türkisch?«
    »Damit hat unsere Sprache keine Verwandtschaft. Überhaupt keine. Die Vorfahren der Türken stammen aus dem Gebiet der Mongolei, unsere Vorfahren aus dem heutigen Iran, und ich gehöre dem Clan der Alanen an, man sagt, unsere Leute hätten als Söldner Rom erobert, der französische Name Alain zeugt von uns. Aber ich wollte Ihnen erzählen … Das Dersim ist ungefähr so groß wie hier das Weser-Elbe-Dreieck. Man hat uns dort alles genommen, unsere Häuser, unsere Dörfer und Schulen, unsere Felder. Jetzt planen sie Stauseen. Sie wollen unsere Täler überfluten, unseren heiligen Fluss Munzur ersticken, die Dörfer ertränken. Den Namen hat man uns schon genommen. Tunceli heißt die Gegend heute, aus dem Silbernen Tor haben sie eine türkische Eiserne Faust gemacht, schön, nicht? Wir haben hohe

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