Paragraf 301
von der Seite an.
»Ihr Herr Rechtsvertreter war nicht dabei, Herr Gül, diese Frage müssen Sie schon selbst beantworten.«
Der Dolmetscher übersetzte. Schlüter schob seinen Stuhl zurück, um ihn besser sehen zu können. Freute sich der Mann?
Schweigen breitete sich im Gerichtssaal aus wie eine Giftgaswolke. Jetzt hieß es aushalten.
Schlüter ging das gestrige Vorbereitungsgespräch mit Gül durch den Kopf. Gül war, diesmal begleitet von seinem Onkel als Dolmetscher, wortkarg geblieben und hatte auf seinen Bericht in dem Gespräch mit Zekiye Kaya verwiesen. Schlüter hatte ihm eingeschärft, »einfach die Wahrheit« zu berichten, denn die Wahrheit kenne er schließlich am allerbesten, und wenn er bei der Wahrheit bleibe, gerate er auch nicht in Gefahr, sich in irgendwelche Widersprüche zu verwickeln. Derlei naive Hinweise hielt Schlüter für angebracht, denn die Überzeugung, vor Gericht könne man Märchen erzählen, gewann immer mehr Anhänger. Gül müsse die Wahrheit sagen, denn ertappe man ihn bei einer Unwahrheit, werde man ihm nachträglich das Asylrecht wieder entziehen. Kaya hatte Schlüters Ausführungen mit verständigem Kopfnicken begleitet, jeden Satz, wie es schien, gewissenhaft übersetzt und Gül auf die Schulter geklopft, was dessen Lederjacke mit wütendem Knarren beantwortete. Aber über Namen hatten sie nicht gesprochen.
Und jetzt wusste Gül den Namen seines Zeugen nicht mehr, verdammt. Und er, der schlaue Rechtsanwalt, hatte ihn gar nicht danach gefragt. Was hatte er übersehen?
»Nun gut, Herr Gül«, unterbrach die Berichterstatterin Schlüters Gedanken. »Wir nehmen zur Kenntnis, dass Sie sich nicht erinnern können. Schreiben Sie: Der Verfolgte erklärt: ›Den Namen des Arbeitskollegen habe ich vergessen.‹«
Gül sagte endlich etwas, leise, er zeigte auf seine Füße, seine Stimme zerbrach, der Dolmetscher hatte nichts verstanden und fragte nach.
»Die Haft. Die Schläge. Das Glas, über das ich gehen musste«, übersetzte der Dolmetscher. »Seitdem habe ich Schwierigkeiten, mich an alles zu erinnern …«
Die Berichterstatterin ließ die Erklärung protokollieren. Sie wandte sich wieder an Gül: »Eine letzte Frage. Wo liegt Ihre Arbeitsstätte und welcher Tätigkeit sind Sie nachgegangen?«
Das hatte Gül nicht vergessen. »Eine Autowerkstatt am östlichen Stadtrand, an der Ausfallstraße 200 nach Erzincan. Ich habe an einem Auto geschweißt. Ich habe einen Auspuff repariert.«
Das Gericht erklärte die Anhörung für abgeschlossen, Schlüter wies noch einmal darauf hin, dass die unangemessen hohe Haftstrafe offensichtlich aus politischen Gründen verhängt worden sei, Gül also politisch verfolgt werde und nicht ausgeliefert werden dürfe, und wiederholte seinen schriftlich gestellten Antrag, das Auslieferungsgesuch für unzulässig zu erklären. Das Gericht bestimmte einen Verkündungstermin auf den 7. Februar und die Gerichtsverhandlung war beendet.
Schlüter erhob sich mit gemischten Gefühlen und drehte sich um. Er bemerkte Kayas ausweichenden Blick. Irgendetwas stimmte hier nicht. Matratze, ging es Schlüter durch den Kopf, während er gebeugt über seiner Tasche stand, um Akte und Zaubermantel zu verstauen, Matratze, Matratze, Malaise, Mätresse, Matrose, Matrize, Matrikel, Mantra …
Auch Kaya hatte bei ihrer ersten Begegnung von der Arbeit gesprochen, zu der Gül zurückgekehrt war. Aber hatte er nicht von einem Stadtteil gesprochen, einen Namen gesagt? Andererseits: Stadtränder gehörten auch zu irgendeinem Stadtteil, oder? Aber von einer Autowerkstatt hatte Kaya nicht gesprochen, sondern von … da gibt es den besten türkischen Honig … bestimmt nicht am Stadtrand, an der Ausfallstraße nach Erzincan, nein …
Was hatte das zu bedeuten? Warum hatte Kaya etwas anderes erzählt als sein Neffe? Wahrscheinlich spielt das sowieso keine Rolle, beruhigte sich Schlüter. Ist doch egal, wo er gearbeitet hat. Hauptsache, er gehörte nicht zu denjenigen, die das Hotel in Brand gesetzt haben.
20.
Schlüter hielt die Luft an und hob vorsichtig den Klodeckel seines Büro-WC an. »Verfluchte Kacke!«, schimpfte er und ließ den Deckel fahren.
Angewidert schloss er die Tür und atmete tief die abgestandene Flurluft ein, als duftete sie wie eine Blumenwiese im Frühling. Angela hatte ihn nach dem letzten Mandantengespräch gebeten, sich das Klo anzusehen und es, wenn er dazu imstande sei, bitte auch zu putzen, denn sie müsse schon seit zwei Stunden pinkeln,
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