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Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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kann meinen Betrieb weiterführen und Geld einnehmen und Steuern zahlen. Wenn auch nicht ganz so viel, wie ich zahlen müsste, das ist schon klar, ich meine … Aber da sind diese Sesselfurzer ja nicht mit zufrieden, die wollen lieber gar nichts, bevor sie nur die Hälfte kriegen. Und dann die Schmarotzer vom Arbeitsamt, die den ganzen Tag rumsitzen und vergessen haben, dass sie von uns bezahlt werden! Kontrollieren können sie natürlich auch nicht, dabei fallen sie vom Gerüst und sind tot und der Türke haut ab und ich bin mal wieder der Gelackmeierte. Dann hör ich eben auf, bevor ich Pleite mache, und zahle gar keine Steuern mehr. Dann geh ich zum Sozialamt. Wie mein Nachbar. Der ist den ganzen Tag zu Hause. Der geht zweimal im Jahr zum Arbeitsamt und zeigt sein Gesicht. Tothauen könnt ich den manchmal, den faulen Sack. Wissen Sie, dass der mehr Geld hat als ich? Aber mich wollen sie fertigmachen. Das ist doch hirnrissig, oder? Was sagen Sie?«
    »Mhhh«, brummelte Schlüter. Er überlegte, ob er heute Abend versuchen sollte, den Koran weiterzulesen, oder ob er mit Christa essen gehen sollte, vielleicht wieder zu Cihan in das Bosporus? Man sollte nicht immer nach Feierabend zu Hause hocken im Gerbergang. Er fühlte sich wie ein tausendjähriger Stein in der Klagemauer, der ewigen Litaneien überdrüssig. Auf jeden Fall würde er sich zu Hause als Erstes eine anständige Tasse Tee machen mit frischer Milch aus dem Hollenflether Moor. Sie holten einmal in der Woche die Teemilch vom Hof. Und vielleicht würde er seine Bücherregale inspizieren, auf und ab gehen, das eine und andere in die Hand nehmen. Man könnte auch umstellen. Vielleicht die Skandinavier in das Regal im Wohnzimmer und dafür die Osteuropäer in die Nebenwohnung? Sie hatten sich vor einiger Zeit die frei gewordene Nachbarwohnung dazugemietet, weil kein Platz für Regale mehr da war. Die Bücher hatten still und friedlich jeden freien Raum okkupiert, sie füllten die Regale Wand für Wand, sie lagen anklagend in Stapeln auf dem Teppich davor, sie quetschten sich quer über die Reihen der Bücher, konnten nicht atmen und sogar im Flur bewohnten sie wie Flüchtlinge ein provisorisches Regal, an dem Schlüter mit der Einkaufskiste nicht mehr vorbeikam. Christa hatte vorgeschlagen, Bücher, zu denen sie keine besondere Beziehung hatten, auszusondern und wegzugeben, aber als sie ihre Bestände prüften, konnten sie sich für keines entscheiden. Es war, als sollten sie ihre Vergangenheit wegwerfen, all die Jahre, die sie zusammen und mit ihren Büchern verbracht hatten. Dann hatten sie begonnen, über einen Umzug zu sprechen, und plötzlich war die Nachbarwohnung frei geworden. Eine einmalige Gelegenheit. Und nun hatten sie eine Wohn-Wohnung mit normalem Bücherbestand und eine Bibliotheks-Wohnung mit nichts als Regalen.
    »Meinen Sie nicht auch?«, fragte Witt ungeduldig.
    »Wahrscheinlich haben Sie recht, Herr Witt«, antwortete Schlüter müde. Er überlegte, warum er im Koran bisher nichts über das Schütteln von Frauenhänden gefunden hatte.
    »Eben! Klar. Sag ich doch. Ich wusste, dass Sie meiner Meinung sind. Und die Billigleute aus dem Osten, gegen die kann keiner an. Das liegt alles nur an der Wiedervereinigung. War vorher besser. Unsereiner hat nur Schwierigkeiten davon. Oder etwa nicht? Was sagen Sie?«
    Der Marder runzelte sein spitzes Gesicht und wollte sofort eine Antwort, eine Meinung. Davon hatte Schlüter immer weniger in der letzten Zeit. Gott war schon lange tot, Kepler, Newton und Konsorten hatten ihn umgebracht, und mit dem Kommunismus war das letzte Kreuz verloren gegangen, in das man die Koordinaten für Gut und Böse eintragen und eine tadellose Kurve zeichnen konnte, die beides zuverlässig voneinander abgrenzte und Orientierung gab. Neuerdings musste man ohne fremde Hilfe festlegen, was Gut und Böse war. Und bei genauer Prüfung erwies sich dann, dass das Böse sein Gutes hatte und umgekehrt.
    »Stimmt doch, oder?«, insistierte Witt wieder.
    »Moment mal«, fasste Schlüter sich, reckte sich und zog mit langem Arm den Sartorius aus dem Regal. Immerhin gab es ein Gesetz. Daran konnte man sich halten, gegebenenfalls durch mehrere Instanzen. Er legte das dicke Buch mit dem abwaschbaren roten Plastikeinband zwischen sich und den Mandanten und schlug es auf.
    »Was ist das denn?«, fragte Witt.
    »Das sind Gesetze«, klärte Schlüter kalt auf.
    »Kennen Sie die etwa alle?«, hakte Witt nach, Entsetzen und Bewunderung in der

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