Paragraf 301
kriegen kein neues Strafverfahren?«
»Neiheiiin!«
Schlüter stand auf und atmete tief durch. Für den Strafverteidiger gab es also nichts zu tun. Liebeskummer, das war alles. Und das war definitiv nicht sein Aktionsgebiet.
Kleinigkeiten. Alles Kleinigkeiten.
Clever war ein heimatloser Mann, den die Liebe einsam gemacht und fast umgebracht hatte. Liebe versetzt Berge und Clever lag darunter. Er brauchte einfach nur einen neuen Horizont, ein paar halbwegs normale Leute, mit denen er reden konnte, also auf keinen Fall irgendwelche intellektuellen Schwätzer, vielleicht eine Arbeit, möglichst eine, die müde machte. Erst mal keine Frau. Kein Therapeutengequatsche. Das Gesabbel der Weißkittel kannte Clever zur Genüge, er beherrschte jeden Trick, hatte alle Sprüche zigmal gehört, er war ›austherapiert‹, wie die Therapeuten ihre Erfolglosigkeit umschrieben. Ein verbogenes Leben konnte man nicht gerade reden, schon gar nicht unter den künstlichen Bedingungen einer Anstalt, sondern nur gerade leben. Je länger Clever allein oder unter Verrückten war, desto mehr würde es mit ihm bergab gehen.
Kleinigkeiten. Alles Kleinigkeiten.
Schlüter zog den Völkermordstein aus dem Jackett, drehte und wendete ihn unter dem kalten Neonlicht. Er wog ihn. War er schwerer geworden?
Vor ihm lag Clever. Er hatte sich wieder das Leichentuch über den Kopf gezogen und stieß unregelmäßige Seufzer aus. Ein Zittern ging durch seinen Leib, wie bei einem Sterbenden. Der Stein begann, Gewalt über Schlüters Beschlüsse auszuüben.
»Sie kommen zu mir, Clever«, hörte Schlüter sich entschlossen sagen. »Zu mir nach Hause, okay? Und da erzählen Sie mir, verdammt noch mal, die ganze Geschichte von dem Klavier. Es reicht mir jetzt, ich will sie wissen!«
Dann klopfte er, ohne auf Clevers Antwort zu warten, mit dem Völkermordstein gegen die eiserne Tür.
Der Richterarsch stand direkt davor. Sein breites, selbstzufriedenes Gesicht war steif und ohne Regung wie bei jedem anderen kurzen Prozess.
25.
Wenn in einer Sekunde dein ganzes Leben vor dir erscheinen kann, dann ist eine stille Viertelstunde eine lange Zeit. Schlüter saß auf seinem eichenen Stuhl hinter dem Schreibtisch, die Füße auf dem Papierkorb und die Hände hinter dem Kopf, sein Blick ging hin und her zwischen dem Bild des lokalen Meisters an der Wand und dem Völkermordstein auf dem Schreibtisch, als hätten beide etwas miteinander zu tun.
Er würde ihn nicht mehr zurückgeben können. Dieser Stein war zu ihm gekommen und würde ihn nicht mehr verlassen. Er nahm ihn in die Hand. Er wunderte sich über das Gewicht – oder war es nur die Verantwortung, die er empfand? Aber Verantwortung für was? Es war nichts zu tun. Veli Adaman konnte man nicht mehr helfen und Heyder Cengi konnte man noch nicht helfen, denn er blieb versteckt. Schlüter sollte, konnte erst tätig werden, falls Cengi verhaftet werden würde. Warten also.
Paul Clever war Gast in der Bücherwohnung. Havelack hatte die Bohnenstange freigelassen und damit die Verantwortung übernommen, der Präsident hatte natürlich zugestimmt. In der Bücherwohnung war genug Platz, es gab drei Zimmer und sogar eine Einbauküche, bei deren Anblick Clever stehen geblieben war. »Ist das ’ne Küche?«, hatte er gefragt und trocken geschluckt. Clever hatte vorläufig keine Sachen. Das Klappbett reichte fürs Erste. Schlüter ließ ihn in der Wohnung zurück und schärfte ihm ein, Christa nicht zu erschrecken, falls sie früher nach Hause kommen würde. Anschließend war er ins Büro geeilt, um sich zur Arbeit zu zwingen.
Und dort hatte Angela ihn aufgeregt empfangen mit dem Hemmstedter Tageblatt in der Hand, das sie von zu Hause mitgebracht hatte: »Ob er das ist?«
Schlüter legte den Stein zurück auf den Tisch und las den Bericht ein drittes Mal:
Kurde im Moor erschlagen
Wie das Polizeikommissariat Hemmstedt mitteilte, wurde am Samstag in Engelsmoor Veli A. erschlagen aufgefunden, ein türkischer Kurde, der sich nach Erkenntnissen der Polizei seit Längerem illegal im Landkreis aufgehalten hat. Die Nachbarn hatten den Toten in seiner Küche liegend entdeckt, nachdem er sich, entgegen seiner Gewohnheit, einen Tag lang nicht gezeigt hatte. Die Spuren, so der Pressesprecher des Polizeikommissariats Hemmstedt, deuteten auf einen Kampf hin. Todesursache sei ein Schädelbruch, verursacht durch Schläge mit einem schweren Gegenstand. Einbruchsspuren seien demgegenüber nicht vorhanden. Wahrscheinlich habe das
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