Paragraf 301
desto blümeranter wurde ihm.
Heyder hatte gestern Nachmittag das erste Mal wieder unter dem großen Tor des Boxenlaufstalles neben seinem Chef auf dem Strohballen gesessen; Heinsohn erlaubte ihm zwar noch keine Arbeit, aber es schadete wohl nichts, wenn Heyder zwischendurch aufstand und sich die Beine vertrat, zumal es Mitte März und wärmer geworden war. Heinsohn war, seit er Heyder aufgefunden hatte, milde geworden, seine Schroffheiten ließ er nur noch selten heraus, seine Klagen behielt er für sich.
Cengi hatte den Kopf hängen lassen und gesagt: »Ich muss zu meinen Leuten nach Hamburg, Chef.«
»Was willst du denn in Hamburg?«, hatte Heinsohn gefragt.
»Zu meinen Leuten.«
»Was heißt – zu deinen Leuten?«
»Zu meinen Leuten eben.«
»Und was willst du bei deinen Leuten?«
»Sie sehen, Chef.«
Mehr hatte er nicht gesagt.
»Meinst du, du schaffst das schon?«, erkundigte sich Heinsohn fürsorglich, ohne weiter in ihn zu dringen.
Cengi hatte vorsichtig genickt. Er erklärte Heinsohn leise, dass er, nachdem der Arzt fort gewesen war und während Heinsohn molk, in Hamburg angerufen habe, bei seinen Leuten, um Bescheid zu geben von Adamans Tod. Sie hatten sich mit den Behörden in Verbindung setzen wollen, Adamans Familie im Dersim benachrichtigen und sich um die Beerdigung kümmern. Normalerweise fand eine Totenfeier drei Tage nach dem Tode statt, aber das war nicht zu schaffen; deshalb würde man sie um eine Woche zum Wochenende verschieben. Die zweite Feier sollte am 15. März zum vierzigsten Todestag stattfinden, zum Gedenken an die vierzig heiligen Männer und Frauen, die der Prophet Ali ausgewählt und ausgebildet hat in Anbetung und Lehre. Sie würden sich treffen, miteinander essen, über Veli sprechen, um so seiner Seele zu helfen, in die Ewigkeit einzugehen, von wo sie sich auf ihre Wiederkehr vorbereiten konnte. Cengi sprach zum ersten Mal von seinem Glauben. Nur manche Aleviten glaubten an die Wiederkehr der Seele, aber er fand den Gedanken tröstlich und irgendwie logisch, weil auch auf der Erde sich alles umwandelte und wiederkehrte.
»Spökenkrom«, hatte Bauer Heinsohn unwillig gesagt. Aber seine Stimme war nicht harsch, sie war milde wie an jenem Tag, als Heyder die Kuh aus dem Güllekeller gerettet hatte. Und er hatte hinzugefügt: »Machen wir. Ich melke eine Stunde früher und dann fahren wir meinetwegen nach Hamburg, wenn du unbedingt willst.«
»Danke, Chef.«
Und nun fuhren sie schon jenseits von Lieth. Heinsohn begutachtete die Felder beidseits der Bundesstraße, die gepflügt und kahl waren oder auf denen schon das Wintergetreide sprosste. Eins musste man den Bauern von der Geest lassen: Auf ihrem Boden wuchs der Mais bedeutend besser als in der Marsch. Dafür stand in der Marsch der Weizen saftiger im Halm.
In Buxtehude fing es an zu regnen und auf den nassen Straßen Hamburgs verloren sie die Orientierung, weil Heinsohn noch nie mit dem Auto in der Stadt umhergefahren war und ihn der Verkehr auf zwei Spuren nervös machte. Cengi kannte sich nicht aus; er war zwar schon einmal im Kulturzentrum gewesen, wie er sagte, aber den Weg dorthin wusste er nicht. Cengi bestand darauf, nur ›Schwarzhaarige‹ zu fragen, wie er die Ausländer nannte, weil er Angst hatte, dass ein ›Weißer‹ ihn verpfeifen würde. Auf Kopfsteinen gelangten sie endlich, nicht weit von einem der unzähligen Kanäle oder Elbarme – wer konnte das unterscheiden? –, jenseits eines tot daliegenden Bürotraktes zu einem hinfälligen mehrstöckigen Wohnhaus, in dessen Eingang die Drähte aus den Klingelschildern hingen und jemand dem Briefkasten die rostigen Ohren hochgebogen hatte. Es war fast Mittag geworden.
Cengi ging zielstrebig am Eingang vorbei, umrundete das Haus und bog in eine Seitengasse ein, um zur Rückfront des Hauses zu gelangen. Auf dem vielfach geflickten Asphalt vor der Hintertür, die offenbar als Eingangstür diente, stand eine Traube schwarzhaariger Männer, aus der Zigarettenrauch in den regnerischen Himmel aufstieg. Als einer der Männer, ein kleines und feingliedriges Exemplar, die beiden Ankömmlinge bemerkte, löste er sich aus der Gruppe und eilte mit ausgestreckten Händen auf Cengi zu, um ihn herzlich zu begrüßen in einer Sprache, von der Heinsohn kein Wort verstand. Die beiden gaben sich die Hand und hielten sich mit der anderen an den Schultern, dann umarmten sie sich und blieben eine Weile stehen, sich wiegend. Als sie endlich fertig waren, standen schon die
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