Paragraf 301
Jeans und das karierte Hemd. Die Gestalt hatte das Gesicht zur Wand gedreht und zeigte Schlüter einen langen Rücken, die spitzen Knochen einer aufragenden Hüfte, einen schmalen Hintern und einen sehr langen Oberschenkel.
Ein flacher Atem hob die Decke. Keine hungrige Heuschrecke, sondern ein Mensch, der lebte. Havelack hatte Schlüter nicht viel mehr berichtet, als dass Paul Clever vom Notarzt, den ein Nachbar alarmiert hatte, in halbtotem Zustand eingeliefert worden war und zwecks Unterdrückung seiner Depression mit Haloperidol behandelt wurde. Was mit Clever genau los war, musste Schlüter also selbst herausfinden.
»Tag, Herr Clever«, räusperte Schlüter sich. Seine Stimme hörte sich dumpf an. Wie in einem Grab, dachte Schlüter, acht Meter unter Normalnull.
Die Gestalt rührte sich nicht.
»Rechtsanwalt Schlüter hier, Herr Clever. Ich möchte mit Ihnen reden.«
Die Gestalt rührte sich nicht.
»Mensch, Clever, was machen Sie!«, sagte Schlüter leise und ging die zwei Schritte bis zur Pritsche.
Die Gestalt rührte sich nicht.
Es gab keinen Stuhl und man konnte nicht von oben auf einen Sterbenden herabreden. Das widersprach der Pietät und außerdem war es unbequem.
»Machen Sie mal Platz, Clever, ich möchte mich hinsetzen.«
Die Gestalt rührte sich nicht.
»Sie sind mir aber ’n Unhöflicher!«, kicherte Schlüter mühsam und setzte sich auf die äußerste Kante der Pritsche, zwischen dem spitzen Hintern und den Hacken der Gestalt, an denen verklebte und verdrehte Socken hingen. Es roch nach alten Socken, Erbrochenem, Jod und Fürzen.
»Sie haben Löcher«, sagte Schlüter. »In den Socken, meine ich.«
Die Gestalt rührte sich nicht.
»Heh, Clever, ich komm doch nicht her, damit Sie mir Ihren Hintern zudrehen und nicht Piep und nicht Papp sagen. Ich will mit Ihnen über Lüneburg reden. Damit Sie da nicht hinmüssen.«
Schlüter wartete die Wirkung seiner Worte ab. Aber die Gestalt rührte sich immer noch nicht.
»’ne Frau, Clever? War es wieder ’ne Frau?«
Der oben liegende Ellbogen der Gestalt zuckte wie ein gerupfter Hühnerflügel nach hinten, als wollte sie Schlüter die Rippen spießen.
»O Mann, Clever. Die wievielte Runde ist das jetzt? Ach nein, vergessen Sie’s. Sie hat Sie – sitzen lassen?« Schlüter fixierte misstrauisch den spitzen Ellbogen.
Ein Wimmern brach aus der sorgenvollen Brust hervor und kam als halber Schrei ins Freie.
Schlüter musste grinsen, wenn in seiner Gegenwart geweint wurde, weiß der Teufel warum. Es gehörte sich nicht. Er unterdrückte das Gegrinse und legte dem Mann eine Hand auf den Arm.
»Heee, sind Sie wahnsinnig, ich bin verletzt!«, schrie der Mann unter der Decke, drehte sich um, kroch unter der Decke heraus an das Kopfende, um sich dort embryonenhaft zusammenzurollen. »Lassen Sie mich in Ruhe!« Seine Lider flatterten.
Clevers linker Arm steckte in einem weißen Verband, das einzig Saubere an dem Kerl.
»’tschuldigung, Herr Clever, aber …« Schlüter rührte die Decke, die auf den Boden gefallen war wie das Leichentuch des Wiederauferstandenen, beiseite.
Clever versteckte sein schmales Gesicht hinter den Armen. »Ich will keine Hilfe. Mir kann keiner helfen!«, murmelte er.
»Und wie heißt die Frau, Herr Clever?«
Clever schüttelte sich unwillig. »Das ist doch scheißegal.«
»Der Richter will Sie nach Lüneburg einweisen, Herr Clever. Er wartet vor der Tür.«
»Soll er, der Scheißrichter.«
»Zuerst mal drei Monate. Da kommen Sie dann zu den Verrückten. Vielleicht müssen Sie auch länger dableiben. So lange, bis Sie ein Richter für gesund erklärt und die Ärzte glauben, dass Sie es nicht wieder versuchen.«
»Na und?«
»Da sind Sie mit Wahnsinnigen zusammen, Clever, mit Bekloppten, Durchgedrehten …«
»Bin ich hier doch auch«, murmelte Clever. »Die sind hier auch alle bekloppt. Ist mir egal.«
»Mensch, Clever, so geht das nicht. Ich möchte …«
»… und ich?«, schrie Clever plötzlich und riss seine Augen auf, große braune, matte Kuhaugen. »Was ich möchte, interessiert keinen, was? Ich will sterben! Kapiert das denn keiner? Ich denke, wir leben in einem freien Land, da kann jeder tun, was er will, für mich interessiert sich sowieso niemand, außer der Justiz jedenfalls nicht. Kein Hahn kräht nach mir und der Steuerzahler will Leute wie mich erst recht nicht haben, ich bin eine Ballastexistenz, also wozu …«
»Was haben Sie eigentlich gemacht mit dem Arm?«
»Benzin«, krächzte
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