Paragraf 301
Opfer den Täter gekannt und in die Wohnräume eingelassen. Vorläufig geht die Polizei davon aus, dass es sich bei der Tat um einen Racheakt handelt und der Täter im türkisch-kurdischen Milieu zu finden ist. Die Ermittlungen laufen auf Hochtouren. Wir berichten ausführlich in unserer morgigen Ausgabe.
»Herrgottverdammtescheiße«, murmelte Schlüter und fühlte sein kaltes Herz dumpf klopfen. »Kriege ich gar nichts mehr mit?? Lebe ich nur noch in den Märchen, die ich täglich lese?«
Was sollte er tun?
Wer konnte diesen Mann erschlagen haben? Engelsmoor? Das musste in der Nachbarschaft von Hans-Herrmann Rathjens sein, aber einen Mord traute Schlüter selbst dem nicht zu. Rathjens begnügte sich damit, seine Mitmenschen totzuärgern, das war sozial angepasstes Verhalten und nicht strafbar. Schlüter überlegte, ob er bei der Polizei anrufen sollte. Aber er hatte kein Mandat, keine Vollmacht. Sollte er mitteilen, was Adaman ihm am Abend des 5. Januar im Bosporus erzählt hatte? Auf die Gefahr hin, dass man ihn, Schlüter, zu Heyder Cengi befragen würde? Und er dann keine Antwort geben konnte, weil er Cengis Vollmacht hatte? Von dem er immer noch nicht wusste, wo er war. Konnte das, was Schlüter von Adaman wusste, zum Täter führen? Nein.
Schlüter griff nach dem Völkermordstein, schloss die Augen, legte ihn an die Stirn.
Keine Kleinigkeiten mehr.
Schlüter stand auf.
Wie sollte man unter solchen Umständen arbeiten? Diese vielen bedeutungslosen Akten, die in seinem Zimmer herumlungerten. Er starrte auf seinen Poststapel. Die Akte Gül lag obenauf. Er nahm sie an sich und schlug sie auf. Beschluss: Der Verkündungstermin war um einen ganzen Monat auf den 7. März verlegt worden. Na wunderbar. Angeblich wegen Krankheit der Berichterstatterin. Ob das stimmte? Oder ob die Kammer zu keinem Entschluss kommen konnte? Weil Gül widersprüchliche Angaben gemacht hatte? Schlüter ertappte sich bei dem geheimen Wunsch, man möge Gül ausweisen. Dann wäre er die Sache los. Und den Kerl obendrein.
Der Rest: Nebensächlichkeiten. Und heute Abend den Clever zu Hause, auch das noch. Was hatte er sich da eingebrockt! Wann würden sie den wieder loswerden? Was Christa wohl sagen würde? Sie hatte Adaman nicht gekannt und doch hatte sie geweint. Schlüter konnte nicht weinen. Das hatte er nicht gelernt. Aber Clever kannte Adaman, fiel Schlüter ein. Jedenfalls hatte Adaman den Termin im Bosporus über Clever ausgemacht. Vielleicht wusste Clever über Adaman etwas, was weiterführte. Schlüter würde sich den Rat eines Serieneinbrechers, Knastbruders und Alkoholikers einholen. Und zwar sofort.
Schlüter lief ins Schreibzimmer: »Ich gehe. Sagen Sie alle Termine für heute ab. Schicken Sie die Leute nach Hause.«
»Und was soll ich sagen?«, fragte Angela mit großen Augen. So hatte sie ihren Chef noch nie erlebt.
»Mir scheißegal«, antwortete Schlüter, den Stein in der Hand.
»Wann kommen Sie wieder?«
Schlüter sah sich im Schreibbüro um wie ein Fremder. Deckenhohe Regale mit Ordnern, alten Terminkalendern und nicht mehr aktuellen Kommentaren; der Kopierer, das Faxgerät, der Tisch, auf dem die diktierten Akten lagen, die Aktenschränke. Angelas herzzerreißend nette Zimmerpflanzen, ihre Kakteensammlung auf dem Fensterbrett; geduldige Stachelpflanzen, denen es gleich war, ob man sich um sie kümmerte oder nicht. Vor allem aber: Papiere, Papiere. Die Papiere wurden zu Akten, die Akten wurden, wenn der Streit beendet und bezahlt war, abgelegt, wanderten ins Archiv, dort warteten sie fünf Jahre in Ablagekartons auf ihre Vernichtung und wurden entsorgt, während immer neue Akten angelegt und immer neue Papiere beschrieben wurden. Ein Kreislauf des Wahnsinns.
»Morgen«, sagte er und ging.
26.
Bauer Heinsohn hatte seinen alten Ford aus der Scheune geholt, tief hing er in seinem weit zurückgestellten Sitz, während Heyder, der Knecht, den der Bauer nicht engagiert hatte, sich auf dem Beifahrersitz so klein wie möglich machte, weil er nicht gesehen werden wollte und noch nicht wieder gesund war. Ein großes Pflaster klebte auf seiner linken Schläfe, sein linkes Auge war tintenblau unterlaufen. Der Frühnebel hatte sich verzogen. Auf den Straßen lagen die Leichen der Nacht: ein Hase, eine Katze, ein Fasan.
Die erste Ausfahrt seit langer Zeit, die Heinsohn nicht zum Supermarkt oder zur Hauptgenossenschaft ins Dorf oder zu Spindelhirn nach Hemmstedt führte, und je weiter sie sich vom Hof entfernten,
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