Parallelgeschichten
dass sie sich noch lange so ununterbrochen und unverhüllt ansehen konnten, so bar jeder früheren Würde, Schönheit und Anmut; sie konnten ihre selbständigen, nicht aufeinander bezogenen, sich beinahe ausschließenden inneren Bilder nicht ausblenden. Und mehr noch. Beide dachten heftig und deutlich nach, was mit dem Liebesakt scheinbar ebenfalls nicht viel zu tun hat, jedenfalls waren die Berührungspunkte zwischen Gefühlen und Gedanken nicht festzumachen. Das Fühlen und das Denken, diese zwei Welten, die sonst verwischt sind oder aufeinander hin durchscheinen, ineinander hinübersickern, hinüberfließen und um die Oberhand kämpfen, spielten jetzt ineinander wie ein geöltes Zahnrad, wie ein feines Uhrwerk, das mittels Übertragungen und unbewusst ein größeres System bewegt, etwas, das keinen Namen hat, das nicht mit dem Verstand zu fassen ist, nicht einzusehen, in seiner riesigen Dimension nicht zu begreifen.
Gyöngyvér sah von so nahe in die Tiefe eines fremden, dunklen Augenpaars, zweier gewölbter Augenbälle, sah gewissermaßen in eine Tiefe hinaus, die keine Dimensionen hatte, kein Licht, schon deshalb nicht, weil es mit dem helleren Anblick ihrer eigenen Nase zusammenfloss. So anders die Kindheit dieses Mannes gewesen war, in der Tiefe der Unterschiede fand sie doch eine Gemeinsamkeit. Darum herum zeichnete sich dunkel schimmernd das in Schweiß zerflossene Gesicht ab oder leuchtete mit dem hochgewölbten Strich der dicht glänzenden Augenbrauen.
Seine Augenbrauen, sagte sie sich. Und vielleicht war das tatsächlich eine mögliche Erklärung. Denn ihre Augenbrauen glichen sich wie die von Geschwistern.
Ein Fließen, ein Druck, sie leckte die Schweißtropfen von seiner Stirn und spürte ihnen mit der Zunge nach, da war ein ganz anderer Geschmack, als sie aufgrund des Geruchs erwartet hatte. Was in die gewöhnliche Sprache übersetzt bedeutete, dass sie den anderen wahrscheinlich doch nicht verstand, ihn missverstand und also wieder einem Wunschbild nachjagte. Und auch die Zimmerdecke fiel ihr auf den Kopf, das war noch stärker, und ein anderer Gedanke gehörte dazu, die Sprünge und die unheilvollen Lichter an ihr.
Die Decke ihres verdammten kleinen Zimmers würde gerade jetzt auf sie einstürzen, sollen doch auch die Wände ihres verdammten kleinen Zimmers zusammenkrachen. Wenn sie es zulässt, sich nicht dagegen stemmt. Alles in ihr protestierte. Sie kann nicht ausbrechen, man lässt sie nicht. Denn das Ganze ist doch nicht gut, sie macht alles falsch.
Sie spannte sich, damit das Zimmer zersprang, mit seinen zu nahen Wänden, die ihr die Haut rieben. Wenn wenigstens die Alte bald einmal abkratzen würde, damit sie die ganze Wohnung beanspruchen kann.
Sie senkte sich nur ein bisschen, hob sich nur ein bisschen, na schön, dann war es eben so, wie er es wollte, na schön, sie gab einfach wieder dem Mann nach.
Das hört nie auf.
Sie hätte aber nicht sagen können, wo genau sie sich mit ihrem Blick, ihren Gedanken und den Wort- und Satzfetzen bewegte, auf welcher Höhe des Fühlens und Sehens. Sie schwebte in dem vom Sand trüben, glitzernden Wasser, und sie saß im staubigen Hof, saß dort, wo man sie hingeknallt hatte, Luft bekam sie auch nicht.
Es war schon fast ganz dunkel.
Sie wusste nicht, wo sie war.
Diesen Ort hatte sie gesucht, oder dieses Gefühl. An der Decke konnte sie eigentlich keine Sprünge mehr sehen. Ich habe immer nur das gesucht, dachte sie, auch wenn sie nicht wusste, worauf sich das bezog. Nicht auf den Mann, so viel war sicher. Dieser Mann, merkwürdigerweise, interessierte sie nicht mehr. Ein Augenblick nach der Dämmerung, noch bevor es Abend ist, der Mann wurde zu einem Teil dieses Moments. Mit ihrem Blick hatte sie vielleicht etwas festgemacht, und damit leuchtete sie jetzt für sich eine unsichtbare Gegend aus.
Ich liebe dich, hätte sie gern hineingerufen. Nur wusste sie nicht, wen. Als wären für einen Augenblick alle diejenigen präsent, die bisher in ihr drin gewesen waren. Die Erdumdrehung hätte man anhalten müssen, damit die Nacht nicht hereinbrach. Sie schaffte es nicht, zu der Person zurückzukehren, die sie jetzt ausfüllte.
Sie wusste nicht, wer das war.
Immer noch nicht.
So wie ihr Muttermund weitete sich auch das kleine Zimmer zu etwas Riesigem, um die Wohnung mitsamt ihrem Kram zu verschlucken.
Sie atmeten einander rhythmisch in den Mund.
Der Mann konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf seine vom Takt des Atmens bestimmten Bewegungen, nicht
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