Parallelgeschichten
gegenüber so ordinär benahm. Oder wenn sie sich schon so ordinär benahm, warum ich dann nicht dachte, sie sei eine Schlampe.
Wenn der Mann der Chefin ins Lokal kam, passte ich auch deshalb auf, weil ich mir nicht erklären konnte, worauf sich die Gehässigkeit zwischen ihnen bezog oder woher sie stammte. Oder warum diese Clarissa allen so zuvorkommend zulächelte, und wenn sie das schon tat, warum sie dann nicht mit jedem ging, mit jedem ins Bett ging. Ich empfand meine Grübeleien als ziemlich lächerlich, denn ich wollte ja nichts von ihr. Aber fast jedes Mal verließ ich das Lokal mit dem Gedanken, dass ich eine solche Demütigung nicht länger ertrug. Obwohl mich niemand demütigte. Ich komme nicht mehr. Nicht einmal, wenn sie mich tatsächlich erwartete und ich ihr eventuell wirklich fehlte. Doch so streng ich diese harten Vorsätze auch formulierte, ich hielt keinen von ihnen ein.
Das machte die Wochentage schauderhaft, weil nichts geschah, und die Sonntage zogen sich unerträglich in die Länge.
Trotzdem war der Sonntag besser, weil ich nicht wusste, wo sie war, ich kannte ihre Adresse nicht, und wenigstens war das Geschäft geschlossen.
Aber von einem der Salonfenster beobachtete ich den heruntergelassenen Eisenrollladen.
Abends folgte ich am Fenster dem umständlichen Schließungsritual.
Im Schaufenster gingen die Lichter aus, dann im Geschäft, sie kamen beide heraus, im Mantel, aber die Tür blieb noch offen.
Man hörte die Glocken der Kirche der Theresienstadt, es war acht Uhr.
Sie langte mit einer langen, in einem Haken endenden Stange hinauf, hängte den Haken in die unten an den Rollladen angeschweißte Öse ein, was ihr nicht immer gleich gelang. Vom zweiten Stock aus beobachtete ich die Zeremonie, zwischen uns zitterten die kahlen Kronen der Bäume auf dem Theresienring, und an den über die Fahrbahn gespannten Drähten schwankten sacht die spärlichen Lichter. Zwischen den Ästen sah ich eher nur ihre Schatten. Um diese Zeit lachten sie hingegen, und wenn gerade die beleuchtete Straßenbahn vorüberfuhr, wurden sie in gelbes Licht getaucht.
Man sah es an ihren sich hin und her biegenden Körpern, dass sie lachten.
Einmal versuchte es die eine mit der Stange, dann die andere. Wenn sie den Rollladen halb heruntergezogen hatten, warfen sie die Stange ins dunkle Lokal zurück, schlossen die Tür und hängten sich beide an den Laden. Die letzten Zentimeter schienen die meisten Schwierigkeiten zu bereiten. Sie traten auf den Rand des Rollladens und drückten mit der Fußspitze, dem Absatz, ihrem Körpergewicht. Die Öse traf auf eine andere Öse, sie legten ein Schloss an. Die Chefin nahm den Schlüssel an sich, sie standen sich gegenüber. Zwei fremde Menschen auf einer leeren, abendlichen Budapester Straße, und doch mussten sie jeden einzelnen Tag miteinander verbringen. Der Schlüssel wurde in einer Eisenschachtel platziert, und nachdem sie verschlossen war, musste sie noch versiegelt werden. Damit mühten sie sich in der Kälte ziemlich lange ab. Sie verabschiedeten sich. Die Chefin verschwand im benachbarten Tordurchgang, um die Eisenschachtel der Hauswartsfrau zu übergeben, die andere ging weg.
So endete der Tag.
Oft spielte ich mit dem Gedanken, wie es wäre, wenn ich unten wartete und ihr dann folgte, sobald sie allein war. Ich würde sie gar nicht ansprechen, ihr nur aus der Distanz folgen, und so wüsste ich, wohin sie abends ging. Aber da konnte ich mich nur ganz selten hineindenken, denn eigentlich war es besser so. Ihr nachblicken, während sie auf dem leeren Gehsteig vor den vernagelten Schaufenstern vorüberging, in die fast völlig dunkle Szófia-Straße einbog und bis zum nächsten Tag weg war.
Aber es gab Wochentage, an denen ich nicht anders konnte, ich musste zweimal, ja, mehrmals hinübergehen. Es war schon viel, wenn ich das Lokal nur einmal betrat. Geld hatte ich auch keins, nur gerade genug für einen doppelten Espresso. Hin und wieder gewann ich zwei aufeinanderfolgende Wochentage, an denen ich nicht hinging, nicht einmal aus dem Fenster schaute, weil ich herausfinden wollte, wie stark ich war. Alles vorbei, interessiert mich nicht mehr. Doch genau dann wurde das Gefühl meiner Niederlage und Lächerlichkeit am stärksten. Ich hatte zwei Tage verplempert, und es wäre noch lächerlicher gewesen, weitere Tage zu verlieren.
Denn wenn ich dann doch wieder hinging, belohnte sie mich mit ihrem strahlenden Blick. Als fragte sie, warum bist du nicht gekommen, wo du
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