Parallelgeschichten
spürte sie, dass sie eine Grenze überschritten hatte, bei späteren Malen sagte sie nichts mehr, sondern nahm nur das Glas entgegen, neugierig, ob ich wirklich so war oder nur so tat, um ihr zu gefallen und sie hereinzulegen.
Dann blieb auch das Nicken zwischen uns weg.
Aus Dankbarkeit hätte ich ihr gern gesagt, heute war der Kaffee aber sehr gut. Oder sonst einen Unsinn, leichthin, so wie es die Menschen voneinander erwarten. Das Glas wackelte ungeschickt auf dem Teller, und ich sagte nichts. Es sah aus, als zittere meine Hand. Ich wollte den läppischen Satz nicht, wollte von niemandem Sätze. Meine Großmutter hatte mir in der besten Absicht den Kopf mit sämtlichen Gemeinplätzen gefüllt, und die hätten in der entsprechenden Lage auch funktioniert, aber ich wollte sie nicht.
Wenn sie mir das Glas abnahm, berührten meine Fingerspitzen unwillkürlich die ihren.
Mal gelang es ihr nicht, mal mir nicht, die unwillkürliche Berührung zu vermeiden, denn bei diesem Spiel ging es nicht mehr um die unwillkürliche Berührung, sondern darum, der Berührung auszuweichen. Als wollten wir beide, dass die Berührung nicht unwillkürlich sei, während keiner von uns riskieren mochte, dass sie absichtlich oder willkürlich wurde. Auch jetzt wollte ich das nicht. Das Ganze ließ sich unter den Augen der Chefin nicht mehr in die Länge ziehen, die hatte ja einiges dagegen. Die Augen der jungen Frau schienen zu bitten, sie vor der grausamen Chefin nicht in eine solche Lage zu bringen.
Also nehme ich lieber meine Demütigung auf mich, na schön, wieder gehe ich ohne ein erlösendes Wort.
Ich sah alles, verstand alles, es mangelte mir nicht an Einsicht, und doch ging ich nicht.
Das gierige kleine Kind war ans Ende seiner Wünsche gekommen, die drei vollen Tüten mit den Drops, Dragees und Gelees lagen neben der Waage. Die Chefin konnte mich ungehindert anschauen.
Sie betrachtete diesen Verrückten lange.
Jetzt konnte ich nur noch hoffen, dass jemand hereinkam und sie sich ihm zuwenden musste. Denn wegen des Kinds wandte sie sich nicht ab, sie ließ es geldklimpernd vor dem Pult warten. Das dicke Glas ihrer kleinen, runden Brille vergrößerte ihre Augen. Der verstörte Blick galt mir, wirkte aber auch sonst, als misstraute sie allem und allen. Ihr knochiger dünner Körper war voller Empörung. Die Oberlippe eingesogen, die Unterlippe hässlich vorgestreckt, wie geschürzt, die Kinnlade gespannt. Sie trug über dem weißen Arbeitskittel einen in der Wäsche ausgeleierten gelben Cardigan, vielleicht um nicht uniformiert zu erscheinen und sich von der anderen Frau zu unterscheiden, und während wir uns in unserer Verstörtheit anstarrten, tat mir dieses Gelb besonders weh. Vor lauter verkrampfter Erregung zog sie die Schultern hoch. Sie hatte eine raue, überarbeitete Stimme, und was sie sagte, war von humorloser Schärfe, Verteidigung und Angriff zugleich; eine bissige Frau.
Sie dämpfte ihr unangenehmes Auftreten mit übertriebener Freundlichkeit, zog sich, wenn sie sich trotzdem verteidigen musste, in die Deckung zuckersüßer Tonlagen zurück.
Irgendwo brannte immer eine ihrer Zigaretten. Sie ließ sie überall herumliegen.
Eigentlich hatte sie nur Lust sie anzuzünden, Lust auf den betäubenden Genuss des ersten Zugs, dann mochten sie allein vor sich hin brennen.
Diese ersten Züge hinterließen dunkelroten Lippenstift auf dem Papier.
American Dream
Madzar kehrte noch am selben Tag unruhig zu dem Haus in der Pozsonyi-Straße zurück.
Der Wind hatte sich einigermaßen gelegt, es mochte auf sieben Uhr abends gehen.
Er stieg zu Fuß in den sechsten Stock hinauf und schaltete die Beleuchtung nicht ein, weil er sehen wollte, wie das natürliche Licht in der opalisierenden Glaswalze des Treppenhauses wirkte. Das Opalene streut das Licht, wenig Licht verstärkt es, zu viel dämpft es. Dadurch wurde die Dämmerung heller als draußen. Als er im sechsten Stock anlangte, fand er zu seiner Überraschung die Wohnungstür offen, obwohl er sich genau erinnerte, sie am Vormittag eigenhändig geschlossen zu haben.
Vielleicht war das der Augenblick, in dem sich ihr Schicksal entschied.
Frau Szemző stand am Fenster des hinteren Zimmers. In dem Zimmer, in dem sie ihre Patienten empfangen würde. Es lag noch genügend Licht zwischen den leeren, weiß verputzten Wänden, alle rohen Neubaugerüche steckten hier, gehobeltes Holz, Ölfarbe, Kalk.
In diesem Augenlick sah er ihr Gesicht, wie es noch nie jemand gesehen
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