Parallelgeschichten
Blut wieder. Der Blutdruck sinkt, der Puls verlangsamt sich, der Sauerstoff erreicht die Herzmuskulatur, der schreckensstarre Körper entspannt sich.
Es gab Momente, in denen es tatsächlich sofort wirkte. Andere Male wirkte es überhaupt nicht.
Manchmal nur ein kleines bisschen, oder sie machte es sich vor, ja, es geht besser, obwohl es noch schlechter ging. Oder es wirkte, und da, nach ein paar Minuten, wenn auch der Fremde ihr nicht mehr so widerlich ins Ohr pfiff und sich die Eismaske auf ihrem Gesicht angenehm zu erwärmen begann, auf einmal wieder, stärker als zuvor, noch ein Anfall. Und damit der Qualen nicht genug sei, verursachte das Medikament einen Blutandrang in der Bauchhöhle, lockerte die Bauchwand, den Schließmuskel, es kam der Durchfall, und sie musste sich, stöhnend und nach Luft schnappend, ihren schweren Körper nackten Wänden und verrutschenden Möbeln anvertrauend, einen Weg durch die ganze Wohnung bahnen.
Wenn ihr jemand zu Hilfe eilen wollte, winkte sie stumm ab.
Bisher hatte sie das Klo im letzten Augenblick noch immer erreicht, wo der Durchfall förmlich aus ihrem Dickdarm herausexplodierte. Trotzdem wichen der Schmerz, die Beklemmung, die Spannung ums Brustbein nicht. Ihr Bewusstsein tobte und schlug um sich vor so viel Demütigung. Und das elende Medikament blieb natürlich immer im Badezimmer zurück, oder sie konnte es in der Morgenrocktasche nicht finden.
Unablässig wiederholte sie einen einzigen Satz, na klar, hier werde ich abkratzen, hier werde ich krepieren, während sie an der Wand nach der Spülungskette tastete.
Wenigstens die Kette zu fassen kriegen, bloß nicht in diesem fürchterlichen Gestank umkommen.
In ihr drinnen saß ein böses kleines Mädchen, das die längste Zeit über das alles kicherte. Vielleicht war es ihre Seele, etwas, das man das Innerste der Seele nennt.
Es erinnerte sie auch an ihre tote Tochter.
Dieses böse kleine Mädchen erschrak über nichts, hatte vor nichts Angst, amüsierte sich über alle ihre Eitelkeiten. Klar wirst du auf diese Art abkratzen. Feig, so wie du gelebt hast. Herr im Himmel, hast du viel Scheiße in den Därmen. Was meinst du denn, wie sie dich finden werden, und denkst du, Scheiße sei in einem solchen Moment wichtig. Aber du brauchst keine Angst zu haben, diesmal überstehst du’s noch. Und wenn du’s überstehst, dann schwörst du, dass du mindestens zehn Kilo abnimmst. Du würdest nicht so viel dünnscheißen, wenn du weniger fressen würdest, nicht wahr. Und trotzdem wird das Bedürfnis, dich vollzustopfen, stärker sein, da kannst du schwören, soviel du willst. So redete es zu ihr, und sie schwor natürlich, ich schwör’s, ich schwör’s, obwohl sie wusste, sie würde nicht Wort halten.
Ihre falschen Schwüre lachten hämisch mit der Stimme des bösen kleinen Mädchens. Und auch die Vorstellung, dass man sie in diesem entsetzlichen Gestank finden würde, falls sie’s doch nicht überstand.
Das also hatte sie an diesem Morgen hinter sich. Und jetzt schien ihr, als klingle das Telefon im Salon schon zum vierten Mal.
Das darf doch nicht wahr sein.
Sie stand mit dem Handtuch in der Hand, lauschte und dachte, ihre Wut, ihre Ohren täuschten sie.
Doch da machten sich alle drei gleichzeitig auf den Weg. Die Frau vor dem Ofen sprang auf, nahm den Schürhaken mit, mit dem sie soeben die Klappe des Kachelofens zugestoßen hatte, die andere Frau hüpfte gelenkig aus dem Bett, und da ihre tastenden Füße keinen Pantoffel fanden und ihr Morgenrock über der Lehne eines entfernteren Sessels lag, lief sie los, wie sie war, barfuß, in ihrem kurzen Seidennachthemd, einem sogenannten
baby doll
, das an ihrem Körper klebte und ihre Schenkel bis zum Ansatz sehen ließ.
Der junge Mann seinerseits riss sich von der Fensterbank los, obwohl er einen Augenblick zuvor gesehen hatte, wie vor dem Kaffeehaus Abbázia ein Einsatzwagen der Polizei hielt. In wahnsinniger Eile kugelten beidseits Polizisten heraus. Das hätte seine Aufmerksamkeit eigentlich wohltuend von der Frau ablenken können, auf die er seit Monaten ein Auge hatte, der er heimlich nachstellte und die er an diesem Morgen unbedingt hätte sehen wollen, obwohl er sie von hier aus kaum sehen konnte.
Der Wind heulte, das Telefon schellte.
Frau Erna verlor vollends die Geduld, knallte das Handtuch auf den Kasten mit der schmutzigen Wäsche und schlüpfte halb nass in ihren rosaroten Bademantel, der ihr trotz seiner grellen Farbe sehr gut stand. Es waren nervöse,
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