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Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Péter Nádas
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wegreißen musste. Überhaupt war das sein größtes Problem, die Unverhülltheit menschlicher Gefühle. Er wollte Ilonas Antwort nicht hören. Und die Wirkung der Antwort nicht sehen.
    Kein Wort, nichts.
    Nein, bitte nicht zu erschrecken, rief die Hausangestellte stotternd und mit gepresster Stimme. Vor einer halben Stunde ist er zu sich gekommen. Der Herr Chefarzt lasse ausrichten, dass sie ihn nicht lange bei Bewusstsein halten können. Es sei leider schon so, dass es nicht mehr lange gehen werde, es bestehe keine Hoffnung mehr. Nach menschlichem Ermessen, haben sie gesagt. Aber jetzt sei er bei ungewöhnlich klarem Bewusstsein. Er verlange nach Ágoston, nach Nínó.
    Und bitte sich zu beeilen.
    Aber mit wem haben Sie gesprochen, um Himmels willen.
    Ilona zuckte unsicher mit den Schultern. Sie wusste es nicht, verstand auch nicht, warum das wichtig oder von Interesse war. Eigentlich wollte sie als Nächstes sagen, sie würde die gnädige Frau gern begleiten.
    Irgendein Mann, antwortete sie, und ihre Stimme zitterte vor Anstrengung, er hat gesagt, der Herr Chefarzt habe ihn beauftragt, weil die gnädige Frau mit ihm etwas Wichtiges abgemacht habe, das jetzt unbedingt benötigt wird.
    Damit wandte sie sich ab, sie konnte nicht weitersprechen, und vor Hilflosigkeit, weil sie ihren Wunsch doch nicht ausgesprochen hatte, ich möchte mich von ihm verabschieden, ich möchte ihn noch einmal sehen, zitterten stumm ihre Schultern.
    Dabei wollte sie auf keinen Fall weinen. Was ging es sie überhaupt an. Ich will nicht weinen, rief es in ihr.
    Wo ist Ágost?
    Ich weiß es nicht, es tut mir sehr leid, aber ich weiß es nicht, erwiderte Gyöngyvér eine Spur zu laut auf die bedrohlich leise gestellte Frage. Ich kann nichts dafür, fügte sie hinzu, als hätte man sie einer schweren Unterlassung bezichtigt, und sie müsste sich rechtfertigen. Er ist früh am Morgen aus dem Bett gesprungen, hat sich angezogen, ohne ein Wort zu sagen, ich habe ihn gefragt, wohin er geht, aber er ist einfach weggelaufen.
    Bestimmt habt ihr wieder die ganze Nacht gestritten.
    Ja, das stimmt leider.
    Ilona, bringen Sie bitte das dunkelgraue Kostüm. Kristóf, du kommst mit. Jemand soll ein Taxi bestellen.
    Anstelle der Wut war jetzt wieder der kühle, überhebliche, befehlsgewohnte Ton da, dem sich die drei kaum entziehen konnten.
    Nicht ihre Gefühle behinderten sie, sondern ihre Kraftlosigkeit. Sie durfte wirklich keine Zeit verlieren, und vor Szenen schreckte sie zurück. Zum Glück bemerkten sie es nicht, aber ihre Mundwinkel bebten, ihre Knie schlotterten, ihre langen, feinen Finger zitterten. Nicht aus Erschütterung, die Sache war für sie schon seit einiger Zeit erledigt. Sondern wegen etwas, womit sie nicht gerechnet hatte, dass man es jetzt doch endlich würde zu einem Abschluss bringen können.
    Ihr Atem beschleunigte sich, sie musste ihn kontrollieren.
    Im Übrigen war für diesen Augenblick, der sie doch unvorbereitet traf, alles ordnungsgemäß vorbereitet. Sie brauchte den Kaufvertrag, den der Sterbende unbedingt unterschreiben musste, bloß aus ihrem Schreibtisch zu holen. Sie wusste genau, wo er lag. Und dann würde sie doch noch Glück haben, ihre kleinen Feen würden bei ihr sein. Jetzt durfte kein Herzanfall dazwischenkommen. Sie war schon auf dem Weg in ihr Zimmer.
    Und es waren nicht die drei Wörter, wie sie ihr Kristóf nachschickte, die sie anhalten ließen. Sondern das Befremden, dass hier jemand noch etwas einwenden, eine andere Meinung haben konnte.
    Ich gehe nirgendshin.
    Wie bitte.
    Ich sag’s doch, ich begleite dich nirgendshin.
    Bist du wahnsinnig geworden.
    Ein Angriff, mit dem sie überhaupt nicht gerechnet hatte.
    Über ihren eigenen Sohn machte sie sich keine Illusionen. In diesem Jungen hingegen sah sie nicht nur jeden Tag ihren ermordeten Bruder wieder, was sie als ein besonderes Geschenk des Lebens empfand, sondern sie kannte kaum ein sanfteres und aufmerksameres Geschöpf, und sie hatte deshalb in den vergangenen sechs Jahren nie bereut, dass sie ihn nicht wieder in ein dreckiges Waisenhaus gesteckt, sondern zu sich genommen hatte. Jeder Mensch stellt unwillkürlich solche egoistischen Berechnungen an. Wem kann ich notfalls trauen. Nützt er mir etwas. Dem hier kann ich wirklich vertrauen. Weder ihr Körper noch ihre Seele besaßen die entsprechenden Organe, mit denen sie hätte verstehen können, was sie mit ihrem Hirn nicht zu fassen vermochte.
    Sie begriff nicht, was los war.
    Nirgendhin, nein, wiederholte

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