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Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Péter Nádas
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der junge Mann beinahe gleichgültig und eher leise.
    Aber warum, um Gottes willen, warum sagst du mir das, oder was soll das jetzt bedeuten.
    Sie konnte nicht verstehen, woher eine solche Stimme kommen konnte. Und dann gab es einen langen Augenblick, von dem die beiden anderen eindeutig ausgeschlossen blieben. Seltsame Situation. Hätten die Gegenstände Augen, würden sie sich so ungerührt betrachten, wie sie das taten, womit sie sich ähnlich wurden, fast schon identisch, oder genauer, es brachte die gemeinsamen familiären Züge an den Tag.
    Ihre Egomanie rang mit ihrem Gerechtigkeitssinn, worauf sie sich beide geschlagen hinter den Schein zurückzogen.
    Auch für Kristóf war es nicht der Augenblick, lange Erklärungen abzugeben. Aber er wusste auch nicht, welche Signale er geben musste, damit die anderen seine Absichten verstehen konnten. Man verstand sie nicht, er verstand sie auch nicht. Seit im Januar auf der gegenüberliegenden Seite der Großen Ringstraße einige der alten Geschäfte neben dem Kaffeehaus Abbázia wieder geöffnet hatten, war dort eine Angestellte, in die er sich sinn- und grundlos verliebt hatte. So sehr, dass er kein einziges Mal gewagt hätte, sie anzusprechen. Er hätte ihr nichts zu sagen gewusst. Einem jungen Mann stößt so etwas natürlich mehr oder weniger fahrplanmäßig zu, und doch ist das Abenteuer der Triebe nicht ganz ungefährlich. Auch wenn es niemand merkte, da er nichts Auffälliges tat, schwankte er mit seiner hilflosen und immer dunkleren Leidenschaft seit Tagen am Rand eines echten, auch klinisch beschreibbaren Abgrunds von Wahnsinn. Seine Tante war der Wahrheit nahegekommen. Was sich im Januar noch als leichtes kleines Abenteuer abgezeichnet hatte, machte ihn jetzt stumm, und in seinem Bewusstsein gab es keinen nüchternen Fleck, keinen klaren Winkel mehr.
    Was sind das für Faxen, ich bitte dich, was soll diese abscheuliche Renitenz.
    Er durfte hier nicht weg.
    Das war der einzige Befehl seiner Seele. Er durfte es sich nicht einmal selbst eingestehen, denn tatsächlich, was hatte es für einen Sinn, tagelang hier zu stehen. Gar keinen. Er durfte etwas ganz Wichtiges nicht in sein Bewusstsein lassen. Weder für sich noch laut konnte er sagen, tut mir sehr leid, ich kann nicht mit dir ans Sterbebett meines Onkels kommen, weil ich hier stehen bleiben muss wegen einer unbekannten Frau, die ich im Übrigen von hier aus gar nicht sehen kann. Wenn er das ausspräche, wenn er es nur für sich selbst formulierte, würde ja offenbar, dass seine Tage nicht den geringsten Sinn hatten. Seine Vernunft hatte den Dienst quittiert, was ihm seine Tante gleich auf den Kopf zugesagt hatte.
    Von der Schizophrenie trennte ihn nur knapp die Tatsache, dass er diese nach gewöhnlichen Maßstäben unrealistischen Sätze noch nicht laut ausgesprochen hatte, obwohl der Antrieb dazu vorhanden war.
    Er klammerte sich an ein altes Gefühl aus seiner Kindheit, nämlich dass die Dinge abweisend waren und mit ihrer unerbittlichen Realität seinen Gerechtigkeitssin verletzten. Oder sein Moralgefühl. Die beiden fremden Frauen konnten nicht wissen, was seine Tante heimlich vorbereitet hatte. Während dein Mann im Sterben liegt, ordnest du die Erbschaftsangelegenheit deines Sohns, und ich soll mit dir gehen, und du redest noch von abscheulicher Renitenz. Leckt mich doch am Arsch, ihr und eure ganze Erbschaft. Ich habe von euch die Nase voll, ein für alle Mal, von der ganzen Familie, Schluss und fertig. Das war es eigentlich, was er seiner Tante ins Gesicht hätte schreien wollen, aber das ging ja auch wieder nicht. Ob er mit seinen kindlichen Gefühlen recht hatte oder nicht, noch wichtiger war für ihn in diesem Moment, dass er, geschehe was wolle, hier nicht fortmusste. Was das für einen Sinn hatte, konnte er nicht sagen, in diesem Augenblick war es ja auch mit dem Verrat an seiner Tante identisch und also gerade moralisch nicht akzeptabel. Vernünftigerweise hätte er eher nach einem Vorwand suchen müssen, warum er nicht mitgehen konnte, einer Ausrede, einer Begründung, wie faul und aus der Luft gegriffen sie auch sein mochte.
    Und dann sagte er etwas, womit er nicht nur die anderen, sondern vor allem sich selbst entsetzte.
    Ich habe genug vom Tod. Sei mir nicht böse, Nínó, verzeih. Ich will nicht mehr. Ich will nicht noch mehr Tod.
    Aber jetzt geht es nicht um dich, Kristóf. Für mich ist es wichtig, dass du mich begleitest. Damit ich in einer so schweren Stunde nicht allein bin, mein

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