Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Péter Nádas
Vom Netzwerk:
eingeteilten kleinen Fenstern floss und tropfte die Nacht mit jedem ihrer Atemzüge. Er diskutierte mit jemandem, mit dem Bulla, klar, die machten Geschäfte, er redete eindringlich, ließ dazu seine weißen Hände im Lampenlicht blitzen.
    Der kommt vielleicht davon, dachte Kammer.
    Das war sein erster deutlicher Gedanke und die letzte große Hoffnung seines Lebens. Er durfte es dem Jungen nicht übelnehmen, wer überleben will, muss Geschäfte machen.
    Noch immer waren die Kessel mit dem Frühstück nicht gebracht worden.
    Seit gut zwei Jahren wusste er nicht mehr, ob die Seinen noch am Leben waren. Seit zwei Jahren durften auch politische Häftlinge keine Postkarten mehr bekommen, und falls sie lebten und gesund waren, so war das gut, noch besser, wenn sie nicht lebten, bei einem Luftangriff umgekommen waren. Lieber stellte er es sich so vor, er würde ja wohl nie mehr zu ihnen zurückkehren. Gäbe es einen Gott, würde er Peix mehr als ihn lieben, aber Gott zeigte sich nicht, weder in den Dingen noch in den Personen. Auch so liebte er ihn stark genug und tat alles, um ihn noch mehr zu lieben, aber auch dafür fand er keinerlei Erklärung und konnte zuweilen seinen Widerwillen gegen den Jungen kaum unterdrücken.
    Kammers älterer Junge musste an der Front sein, und dieser Peix war gleich alt. Daran dachte er nicht gern, dass sein Sohn im Dienst der Nazis stand. Diesen Jungen aber liebte er sogar noch deswegen, gerade deswegen, denn er hoffte heimlich und schmachvoll, dass er so überall größere Überlebenschancen hatte. Die Front tastete sich hier in ihre Nähe vor, man hörte die Artillerie der Engländer, kannte auch einigermaßen die allgemeine Lage. Das Wachpersonal brachte seine kaputten Radios einem der Genossen zur Reparatur, nachdem die brauchbaren hatten abgegeben werden müssen. Manchmal gelang es auch ihm, in der Schreibstube die englischen Nachrichten zu hören. Sie durften die Informationen nicht weitergeben, damit die Nazis nicht draufkamen, woher sie stammten. Nicht in alle Winde rufen, sie kommen, sie stehen gleich am Gartentor. Bei den Bombardierungen wurde das Lager sorgfältig gemieden, es war klar, die Engländer wussten, dass zwischen den niederwüchsigen Tannen in den einstöckigen oder ebenerdigen Baracken außer Menschenfleisch kein vernichtungswürdiges Material vorhanden war. Die zwei nächstgelegenen Städtchen hingegen, das holländische Venlo und das deutsche Pfeilen, wurden fast jeden Vormittag, fast jede Nacht angegriffen. Die von den Explosionen aufgeschreckten Häftlinge brüllten, auf einmal voller Sehnsüchte, so wie sie bis dahin seit Monaten, vielleicht seit Jahren geschwiegen hatten; sie weinten vor Freude.
    Wenn er ihn ansah, und er sah ihn nunmehr seit vier Jahren täglich achtzehn Stunden unentwegt an, wusste er mit einer die Tiefen seiner Seele durchströmenden Freude, wusste es mit allen Muskeln, Fasern, Fibern und Zellen, dass dieser Junge sein persönliches Eigentum war. Er lebte deshalb in physischer Bereitschaft, wie wenn man verliebt ist. Zuweilen staunte er selbst, warum er nicht eifersüchtig oder eifersüchtiger war, denn wenn Peix aus der Wäscherei zurückkam, gab es seinem Herzen nur einen Stich oder einen dumpfen Schlag. So erschöpft konnte er nicht sein, dass er nachts nicht mehrmals und gern hochschreckte, um dessen schlafendes Frauengesicht zu sehen. Peix hatte das Gesicht seiner Mutter, das Gesicht einer unbekannten Frau, ihre milchweiße Haut, ihre hübsch gerippten, prallen Lippen, und Kammer konnte nicht anders, er musste denken, er habe diese Frau gekannt. Sie fassten sich nachts häufig an, zufällig und absichtlich, in ihrem Entsetzen umarmten sie den anderen, pressten ihn fest an sich, oder sie kneteten einander zärtlich die Hände. Kammer achtete darauf und sorgte dafür, dass sie beisammenblieben, aber nie gezwungen waren, die Liegestatt zu teilen. Die Nacht im Tiefschlaf zu verbringen ist eine der Bedingungen des Überlebens. Er unterrichtete diesen Jungen, lehrte ihn mehr, als er selber wusste. Es wurde ihm klar, dass man nicht nur den eigenen Sohn macht; falls das doch nicht die Frucht seiner Lenden sein sollte, würde er trotzdem einen Menschen aus ihm schnitzen. Wie sollte denn ein Mann sich daran erinnern, wann er was bei welcher Frau am Eingang ihrer Gebärmutter getan hat. Tatsächlich erinnerte er sich nicht gern an so etwas, es war ihm entfallen. Er war seit sieben Jahren Häftling, nach dem ersten langen Jahr der Gefangenschaft war

Weitere Kostenlose Bücher