Parallelgeschichten
Es würde seinem Anspruch auf architektonische Reinheit nicht gerecht werden. Hoffentlich kam das Telegramm nicht gerade jetzt. Wenn Bellardi nachts in Mohács eintraf, kam er von Wien. Und wenn er nicht in der Nacht kam, er kam ja nicht, das Warten war vergeblich, kam er vielleicht fünf Tage später mit dem nachmittags um vier aus Belgrad eintreffenden Schiff. Aber auch da kam er nicht, und Madzar musste wieder drei Tage warten und war noch froh, dass auch dann kein Telegramm kam. Vor lauter Warterei war er schon so weit, in der entsprechenden Stunde seine Arbeit liegenzulassen und zur Schiffsstation hinunterzuspazieren. So wie er war, in der Arbeitskleidung seines Vaters, um mit eigenen Augen zu sehen, ob Bellardi heute ausstieg.
Aber nicht einmal auf der Kommandobrücke sah er ihn.
Er hätte ihm etwas ausrichten lassen können, den Mayer-Jungen sah er.
Aber er musste sich selbst überlisten und tun, als verfolge er zwischen den Weiden am Ufer zufällig das laute, spektakuläre Anlegemanöver der Carolina, dann ihr Ablegen, unter dem Klageton der Sirene. Wenn sie sich mit ihren heruntersausenden, laut aufklatschenden Schaufelrädern gegen die Strömung entfernte, tönte die Sirene lange. In solchen Momenten stand er hinter dem Zollhaus oder an der Steinmauer der Seidenspinnerei, nie aber gelang ihm während des An- oder Ablegemanövers ein Blick auf Bellardi.
Manchmal lief er aus dem Haus, wenn er die Schiffssirene hörte, genauso wie als Kind, schnell hinunter ans Ufer, und er schaute beim alten Barkenhafen zu, wie die Carolina langsam vorbeiglitt.
Einmal sah er Geheimrat Elemér Vay, der aus Belgrad kam, hier aussteigen, der Mayer-Junge schleppte ihm das Gepäck nach. Der erlesen gekleidete gestrenge Herr wurde am Fischmarktplatz von der wappenverzierten schwarzen Chaise des Hotels Korona erwartet. Gleichzeitig legte das Schiff unter lautem Tuten gegen die Strömung ab. Es führte seine auf die Reling gestützten Passagiere mit sich fort, und das schmerzte Madzar nicht nur, er begann sich auch vor Fernweh zu fürchten.
Es sollte ihn gar nicht berühren. Er hätte ungern zugegeben, dass in seinem Leben rätselhafte Vorgänge und Phänomene existierten, die er auch nachträglich nicht durchschaute und in keiner Weise nüchtern vorausberechnen konnte. Davor hatte er eine Angst wie vor unstatthaften körperlichen Berührungen. Als Bellardi am Nachmittag wieder nicht kam, sondern nur der mächtige Strom mit seinen schlammverdichteten Wirbeln, brach er zu einem längeren Spaziergang auf, um seine Wut abzureagieren.
Wenigstens würde er von da draußen zwei Flaschen guten Weins mitbringen, statt mit leeren Händen zurückzukommen.
Wenigstens hätten sie dann ihren guten Wein parat, wenn Bellardi kam.
Die durch Bachtäler und die Gräben zeitweilig auftretender Wasserläufe unterteilten, von einer Lössschicht bedeckten Erhebungen und Hügelzüge liegen nördlich der Stadt, wo schon zur Römerzeit Reben angepflanzt wurden und wo der höchst aufwendige Weinbau, den levantinischen Weinhändlern sei Dank, sogar die anderthalb Jahrhunderte türkischer Besatzung überstanden hatte. Die uralten Weinkeller sind an manchen Stellen schon lange eingebrochen. Über dem zugemauerten, mit Erde gedeckten mittelalterlichen Labyrinth sitzen fensterlose kleine Weinpressen und dem Fluss zugewandte schmucke, stolze Häuser, die den wohlhabenderen Schwaben gehören, mit Holzveranda und einer reichen, dreigeteilten Holzverschalung. Madzar kletterte auf wagenspurbreiten Hohlwegen dahinauf, zwischen vertikalen Lösswänden. Immer deutlicher und detaillierter erinnerte er sich an das, was mit ihm und Bellardi einst passiert war. Die tüchtigen Fußmärsche nach dem Tagewerk taten ihm gut. In gewisser Weise war es, als schenkte er Frau Szemző mit diesen Möbeln seine Kindheit. Das Erinnern an sich war für ihn nicht so überraschend, darin hatte er Übung, während der Arbeit befasst man sich ja mit den winzigsten Einzelheiten, und parallel dazu fallen einem allerlei andere Ereignisse und Bilder aus dem Leben ein, die mit der Arbeit überhaupt nichts zu tun haben. Nur geschah das alles jetzt in seiner Geburtsstadt, während er an Zäunen und Mauern zwischen wildgewordenen Hunden entlangging oder in der tödlichen Stille und dem feuchtgrünen Dämmer der Hohlwege nach oben stieg. Einmal, als er mit einem technischen Detail beschäftigt war, er musste etwas ölen, fiel ihm die riesige, über den angeschwollenen Fluss geneigte Weide ein,
Weitere Kostenlose Bücher