Parallelgeschichten
bolschewistischen Politkommissare in den Filmen, die aus dem fernen Russland kamen. Dieser Mann war mehr als zehn Jahre älter als ich, er mochte um die dreißig sein, aber in den Gesichtszügen, in seinem mageren Körper, im Blick hatte er den verletzlichen jungen Burschen bewahrt, der dauernd Angriffe provoziert, überall Feinde wittert, keinen Widerstand erträgt.
Ich selbst tat, als suchte ich die freundschaftliche Annäherung, ich versuchte die peinliche Situation sozusagen mit einem herzlichen Benehmen zu überbrücken. Jemand mit einer anständigen bürgerlichen Erziehung hat keine Mühe, und mag die Situation noch so peinlich, seine Stimmung noch so gedrückt sein, ein freundliches Gesicht zu machen. Was nicht Heuchelei ist, sondern eine vernunftgelenkte Navigationsregel. Habe ich meine Wohnung verlassen, soll ich den anderen weder mit körperlichen noch mit seelischen Gebresten zur Last fallen. Ich begucke mich nicht mehr im Spiegel, zupfe nicht an meiner Kleidung herum, sondern trete selbstsicher auf. Trotz der Peinlichkeit der Situation und der doppelten Zurückweisung hätte ich immer noch die Hand geboten zu einer förmlichen Vorstellung. Was er wiederum nur mit einem kühlen Blick beantwortete. Er wollte es nicht, hatte keinen Bedarf dafür, oder verschwendete einfach keine Zeit darauf.
Offensichtlich hatte er keine ähnlich geartete Erziehung genossen. Er schien nicht vom Land zu kommen, eher aus der Vorstadt, was auch ein Grund unserer Spannung war, den er aber wohl naturgemäß nicht wahrnahm. Er konnte nicht wissen, was ich in seinem Benehmen als fehlend empfand. Höchstens merkte er, dass ich die deutlichen Zeichen seiner Zurückweisung nicht verstand. Ich selbst musste mir vormachen, dass ich nichts bemängelte und auch der Zurückweisung keine besondere Bedeutung beimaß, die bürgerlichen Anstandsregeln galten ja nicht mehr. Nicht nur, weil sie offiziell für ungültig erklärt worden waren, sondern weil auch ich diese stellenweise noch funktionierenden Regeln gern über den Haufen warf. Seine Augen aber schienen mir schön, dunkel, durchdringend, mit seiner Reserviertheit schützte er eher sich selbst.
Auch er hatte keine andere Wahl, er musste wohl tun, als sei es nicht so, wie es war.
Als wäre es die natürlichste Sache der Welt, dass seine Frau ohne jegliche Vorankündigung ihre neueste Eroberung, ihren Erwählten, oder was weiß ich, mitbrachte.
Um dieser Unmöglichkeit eine Form zu geben, hätte er eigentlich aussteigen und seiner Frau die Gelegenheit geben müssen, mich vorzustellen.
Ohne diese Formalität war mir ja schon etwas mulmig zumute. Auf so engem Raum mit jemandem zusammen sein, dem man nicht vorgestellt worden ist.
Ich konnte die peinliche Lage nicht aufheben, hatte kein Mittel zur Verfügung.
Nicht nur hatte er das offensichtlichste und instinktive Zeichen der Herzlichkeit, meinen Gruß, nicht erwidert, sondern auch mein anhaltendes Lächeln nicht. Ich gebe zu, dass ich auch damit einfach nur die Anstandsregeln befolgte, in diesem Sinn war es tatsächlich ohne Bedeutung, aber was sonst konnte ich tun. Es war eigentlich gar nicht sein Blick, mit dem er die Konventionen oder auch mich persönlich zurückwies, es war vielmehr sein ganzes, von unterdrückter Wut und dauernder Unzufriedenheit aufgebrachtes Wesen, das sich mir entgegenstemmte. Wir hatten die Autotür noch gar nicht erreicht, als er schon empört mit der Zunge geschnalzt hatte. Er demonstrierte seine Wut auf seine Frau. Als fände er sein Vergnügen daran, kleinlich und gereizt zu sein und von vornherein auf alle Benimmregeln zu spucken. Weil er sich das erlauben dürfe, weil er seine Gewöhnlichkeit charmant finde. Er könne es sich sogar vor einem Fremden erlauben, sagte sein nackter Blick. Er sitze fest im Sattel. Oder er gestatte sich das gerade, damit ich seine Stärke und Macht sah und mich, was seine Frau betraf, nicht eitlen Phantasien hingab. In seinem Benehmen war etwas unangenehm Aufgeblasenes, Prahlerisches, Gespreiztes. Wütend drehte er seine Stimme auf so laut, als säße er nicht in diesem kleinen, geschlossenen Raum und in der Gegenwart eines Fremden. Dass ich mich für die Frau und mich selbst tödlich schämte, war noch das wenigste. Weil sie zu so einem schönen Ungeheuer gehörte, weil sie einen solchen Pfau brauchte.
In einem Augenblick ging alles in Brüche.
Seine Stimme war tief, stark, kräftig, voller drohender Reserven. Er regte sich wegen irgendwelcher Getränke auf, die sie zum
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