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Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Péter Nádas
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sollten früher oder später an die internationale Öffentlichkeit gelangen, aber über Form und Zeitpunkt entschied nicht der Direktor der Agentur, sondern immer, aber nicht immer logischerweise, jemand ganz oben.
    Nicht ihre Sprachenkenntnis, sondern ihre Zuverlässigkeit war das Wertvolle an ihnen.
    Auch jetzt redeten sie gerade von einem Dokument, nämlich dem jüngsten Bericht der Theoriekommission, den sie alle drei in den vorangegangenen Tagen übersetzt hatten. Daraus hätte man schließen können, dass der Text endgültig war, es gab aber mehrere Anzeichen, dass in den höchsten Kreisen deswegen eine Schlammschlacht im Gang war.
    Diese berüchtigte und mächtige Kommission bestand aus insgesamt drei Mitgliedern, alles namhafte Universitätsprofessoren, unter ihnen Ágosts Vater, der aber wegen seiner geistigen Umnachtung mit dem Dokument nicht mehr viel zu tun haben konnte. Trotzdem hatte André es zur Sprache gebracht, weil er hoffte, Ágost wisse aus seinen familiären Quellen etwas. Hansi hatte nämlich bereits an der russischen Übersetzung gearbeitet, als ihm in einem Anruf aus dem Sekretariat des Ministerpräsidenten mitgeteilt wurde, dass der Text vorläufig nicht benötigt würde. André bekam das mit, und er verstand nicht, warum die vom Sekretariat eingreifen mussten. Dass der Ministerpräsident in direkter Verbindung mit dem russischen Geheimdienst stand, wusste er, und er wusste auch, dass es von der aktuellen Situation abhing, in welche Richtung der Ministerpräsident tendierte. Welche es jetzt gerade war, das wollte André wissen. Offiziell hatte der Ministerpräsident nichts mit der Kommission zu tun, höchstens stand er zu einem der Mitglieder, Ágosts Vater, in einer engeren persönlichen Verbindung. Obwohl er im Spanischen Bürgerkrieg Politoffizier in der Internationalen Brigade gewesen war, gehörte er jetzt zum einflussreichen geheimen Kreis der Nationalisten. André war der Meinung, dass der Text nie offiziell auf Ungarisch erscheinen würde, hingegen würden sie ihn wahrscheinlich in einer Übersetzung durchsickern lassen. Allerdings wohl nicht auf Russisch, vom russischen Standpunkt aus gesehen war da etwas schief. Warum aber band man ihnen das auf die Nase, wenn nicht in einer bestimmten Absicht. André hätte auch gern gewusst, was an dem Text nicht stimmte. Sie hätten ja die fertige russische Übersetzung ganz einfach in den Papierkorb werfen können, statt so auffällig zu tun. Und wenn sie der Sekretär des Ministerpräsidenten absichtlich wissen ließ, dass die Russen schon vor Abschluss der beglaubigten Übersetzung protestierten, was wollte er dann damit sagen. Dass sie noch andere Quellen hatten, um im Voraus über offizielle Absichten informiert zu sein, konnte für Hans ja keine große Neuigkeit sein. Warum also. Der Ministerpräsident hatte ihnen doch wohl nicht mitteilen wollen, dass er wusste, was alle wussten und woran alle und somit auch er fleißig arbeiteten.
    Ágost aber wusste von gar nichts, oder er wollte sich rächen, indem er nichts verriet. Er hatte seine undurchdringliche Miene aufgesetzt, die keiner durchschaute. Alle drei hatten ihre spezielle Informationsquelle, die sie voreinander eifersüchtig hüteten.
    Solche Rituale hatte es auch im Internat gegeben.
    Ihre Vertrauensstellung verdankten sie nicht ihrer speziellen Fähigkeit, eine Fremdsprache in Wort und Schrift besser zu beherrschen als ihre Muttersprache. Hans von Wolkensteins Muttersprache war im Übrigen Deutsch, seine Mutter lebte bis zum heutigen Tag an der tschechischen Grenze, nicht weit von ihrem einstigen Familiensitz, in einer Kleinstadt des Erzgebirges namens Annaberg, wo sie als Kreisärztin arbeitete, nur sein Vater war Ungar. Die drei standen in engem Kontakt zur militärischen Aufklärung, der Spionageabwehr beziehungsweise zum im Ausland agierenden zivilen Geheimdienst, das war das Entscheidende. Alle drei bekleideten einen hohen militärischen Grad und hatten für ihre Verdienste hohe Auszeichnungen erhalten, was ebenfalls nur wenige wussten. André hatte als einer der erfolgreichsten Agenten des britischen Geheimdiensts gegolten, bevor er ein paar Monate nach Kriegsende auf die russische Seite wechselte und mit nicht weniger Erfolg für sie zu arbeiten begann. Von seinem letzten Posten, dem holländischen Eindhoven, musste er innerhalb einer halben Stunde mit nur einer Tasche in der Hand abreisen. Hans wurde zuerst in die Sowjetische Besatzungszone zurückgeschickt, er solle seine

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