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Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Péter Nádas
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Schützling hinabbeugen, durften ihre überströmende Zärtlichkeit dem sexuellen Tabu entziehen, sie unzensiert loslassen. Da waren sie nicht mehr Zeus und Hera, sondern sie konnten sich ihm gegenüber benehmen, wie es die verlorenen, fernen, längst schon aufgegebenen Eltern hätten tun sollen.
    Zwischen Mädchen und Frauen spielen die seelischen Unterschiede, die emotionale Feinmechanik wahrscheinlich eine größere Rolle.
    Zwischen Jungen und Männern lenken die physischen Gegebenheiten diese heimlichen kleinen Rollenverteilungen, die gröberen oder zumindest die sichtbaren Zeichen.
    Größe, Muskelkraft, Geschicklichkeit oder auch die viel rätselhafter funktionierende, nicht nur mit den physischen Gegebenheiten verknüpfte Energie. Natürlich ist es vorteilhaft, wenn gewisse geistige Fähigkeiten dazukommen und eventuell auch die emotionale Feinmechanik entsprechend ausgearbeitet ist. Allerdings nicht, um verwendet zu werden, unter Jungen ist ihre Verwendung verboten, sondern um ihren schlauen Schlichen und Grausamkeiten zu dienen. André Rott war etwas kleiner und um einiges zerbrechlicher als Kovách, der seinerseits mit allerlei sogenannten Frauenleiden zu kämpfen hatte, er hatte Migräne und musste sich in Acht nehmen vor rätselhaften und schlecht zu kurierenden Erkältungen. Er machte tatsächlich den Eindruck einer großen weichen Katze; einer nicht ganz harmlosen, die auch zuschlagen kann, die aber sonst, wenn man sie in Ruhe lässt, nett herumliegt oder zusammengeringelt auf dem Ofen schläft. Wer hingegen André ansah, hatte sofort das Gefühl, mit einem Zusammenstoß rechnen zu müssen; von bestimmten Gesichtern und Gestalten geht eine nicht benennbare Unruhe aus.
    Etwas strahlt von ihnen ab, das man in jedem Fall erwidern muss, auch wenn nicht jeder gleich eine Erwiderung parat hält. Sein Schädel war ungewöhnlich schmal und lang. Auf seine Art gar nicht unproportioniert, nur eben statt der gewohnten Kugel eher einer Spindel gleichend. Seine Stirn knochig, höckerig, gewölbt. Seine Nase schmal, eine Hakennase mit stark betontem Rücken. Er vermittelte den Eindruck von Strenge, Macht und Kraft, was vom glatten dunklen Haar und den bläulich unter der Haut schimmernden Stoppeln noch unterstrichen wurde. Gleichzeitig hatte er zwei Merkmale, die das alles abschwächten, die peinliche Strenge seiner Erscheinung fast auflösten, die bezauberten, lockten, einen nicht losließen. Das zarte, tiefe Grübchen an seinem trotzigen Kinn, das schwer auszurasieren war, und seine dunklen, von sehr langen schwarzen Wimpern betonten Augen; sein gefühlvoller Blick.
    Wer ungeschützt hineinsah, geriet in ein Labyrinth, und wenn er nicht aufpasste, fand er nicht wieder heraus.
    Zu alledem fast abstoßend volle, violettrote Lippen, wobei die untere etwas vorstand.
    Beinahe in derselben auf Blutstau deutenden Schattierung, die sich an seinen Brustwarzen mit dem geschwollenen Hof zeigte, nachdem er das Hemd ausgezogen hatte. Oder als er von seiner glänzenden Eichel mit dem stark abgesetzten Rand die schrumpelige Vorhaut zurückzog. Die schamhaft schnelle und trotzdem exhibitionistische Bewegung gehörte ebenfalls zu ihrer Zeichensprache. Es war das geheimste Signal, das seine väterliche Autorität unanfechtbar machte, sein Schwanz. Wenn er ihn zeigte, war das eine lange nachwirkende Warnung. Dabei ging es nicht unbedingt um seine Größe. Wenn er ihn aber nicht zeigte, die Gelegenheit ausließ, war es, als würde er sich ihnen entziehen, wie ein Liebesentzug, ein Vertrauensentzug, eine absichtlich verhängte Strafe.
    Was sich einmal ins Hirn gebrannt hat, wird man immer vermissen, immer wieder haben wollen, zumindest in der Form einer gelegentlichen Bekräftigung, denn der bloße Anblick ist ja höchst vergänglich. In diesem Sinn hatten Größe und Kraft seines Schwanzes doch eine Bedeutung. Aber mehr noch seine Proportionen, seine Position, seine Form, seine Beschaffenheit, alles das, was auf Funktionstüchtigkeit, auf glühende Lebensenergie deutet, alles das, was als Empfindung geahnt, aber nicht geteilt werden kann; mit einem Wort, seine tabuisierte Ästhetik. Das alles war ebenfalls Teil der unter dem Schweigegebot stehenden Sprache, die, trotz vielfacher Vernebelung und Verzerrung, von allen Männern sehr gut verstanden wird, auch wenn die Männer in ihrer tödlichen Bedrohtheit sie nicht sprechen und oft nicht einmal in Gedanken daran zu rühren wagen. Einzig auf den Gängen, in den Schlafsälen und

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