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Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Péter Nádas
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und Stärkste sein, nicht zu reden davon, dass er die meisten Fremdsprachen konnte, aber die Rolle des Vaters hatte der im Übrigen zu Sentimentalität und Grausamkeit neigende André fest besetzt. Kein Internat, in welchem nicht der fehlende Vater zur Hauptrolle wird. Und da Zärtlichkeit zu den Eigenschaften des physisch stabileren Hans gehörte, konnte er nur die Rolle der Mutter beanspruchen. In ihrer Geheimsprache bekam diese Rollenverteilung eine doppelte Bedeutung. Hans war eigentlich noch stärker und wichtiger als der Vater, da er sich ja anstelle der echten Mütter um die Familie kümmerte, und war auch Stellvertreter des Vaters, der umsorgt werden musste, damit er die Familie ungestört lenken konnte. Sie alle lenken. Im Zeichen dieser Dualität kämpften sie um den ersten Platz. Dabei ging es um die ewig anhängige Frage, wer den größeren Einfluss auf Ágosts Leben besaß.
    Was den Ausgang des rituellen Kampfes betraf, hegten sie natürlich keine Zweifel oder Hoffnungen, da sich André schon vom leisesten Kampfsignal in seiner diktatorischen Rolle bestärkt fühlte; eine Erschütterung seiner väterlichen Macht brauchte er nicht zu befürchten. Was die beiden anderen nicht hinderte, fast dauernd, von kurzen Waffenstillständen abgesehen, und bisweilen unter Zuhilfenahme gemeinster Mittel, an seiner Macht zu rütteln. Chronos muss geblendet werden.
    Dieser mythische Kampf gab das Maß ihrer gegenseitigen Wertschätzung, und so galt André als klug, aber in gefährlichen Situationen als wankelmütig, Hansi als ausgesprochen verantwortungslos, zynisch und dumm, aber in heiklen Situationen als erfinderisch und zuverlässig. Mit ihrer Konstitution bestätigten sie gewissermaßen die Rollenverteilung, Ágost war auf die Rolle des pflegebedürftigen Kindes festgelegt, und er bedeutete Hans mehr als die eigenen Kinder, die sowieso weit entfernt lebten und mit denen er keinerlei Kontakt haben durfte. Für Ágost musste man sorgen, ihn lenken, gegebenenfalls beschützen, und Ágost war phlegmatisch genug, das Umsorgt- und Bevormundetwerden zu dulden. Nach außen tat er, was Hans für wünschenswert hielt, und in seinen Meinungen folgte er der Einfachheit halber dem Denken Andrés. Er war mit ihnen verwachsen, und das nun entsprach genau der Taktik, die er als Kind verfolgt hatte, als er sich von einem Tag auf den andern im Internat von Villeneuve wiederfand und schon in der ersten Nacht verprügelt wurde. Als ihn sein Vater in die Schweiz brachte, sprach er schon fast fließend Französisch, und die anderen verziehen ihm vielleicht gerade deswegen nicht, dass es nicht seine Muttersprache war. Er regte sie mit seinen Fehlern auf. Der Eindringling musste verjagt werden. Sie zählten die Fehler, dann musste er im blauen Dämmerschein des Nachtlichts entsprechend viele Ohrfeigen kassieren, ohne zu heulen. Vergeblich versuchte er, es heldenhaft zu ertragen, nach der dritten oder vierten Ohrfeige konnte er nicht mehr. Dann warfen sie ihn zu Boden und rollten ihn in eine Decke, darauf hatten sie ja gewartet. Den ganzen Tag hatten sie darauf gewartet, dass er auf Ungarisch schrie und weinte, auf Ungarisch nach seiner Mutter rief. Worauf extra Strafe stand.
    Jede Nacht schlugen, prügelten, traten und quälten sie ihn, bis er nach ein paar Wochen zufällig auf die Lösung kam.
    Er begab sich unter die Vormundschaft größerer Jungen. Das bedeutete zwar demütigende Knechtschaft, Schmeicheleien, aber in Wahrheit benutzte er sie wie Gegenstände, die der Tarnung dienen. Es wurde eine dauernde Knechtschaft daraus, doch auf diese Art konnte er sein erschüttertes Selbstvertrauen am besten verbergen, und das musste er, um am Leben zu bleiben.
    Vielleicht war es einfach nicht seine Veranlagung, sich ohne weiteres zu zeigen oder geradezu auszustellen wie die beiden anderen Männer. Aber hin und wieder begehrte er gegen sie auf, so wie damals gegen seine Sklaventreiber, oder er schmollte auf eine lächerliche Art, was ebenfalls zu dem zweideutigen Erpressungs- und Widerstandsrepertoire aus seiner Kindheit gehörte. In solchen Momenten verwies ihn André an seinen Platz, Blitze schleudernd, oder Hans fiel mit seinem mächtigen Körper über ihn her, wärmte ihn wie ein Ofen, und in kurzer Zeit war seine Rebellion entwaffnet. Genau das wollte Ágost erreichen, auf diese Art belohnte er sie. In ihrem Spiel war dies die Quelle des gemeinsamen Genusses, denn bei solchen Gelegenheiten mussten sich die größeren Jungen zu ihrem

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