Parallelgeschichten
aber doch auf andere Köpfe ausgeteilt hatte. Lässt einem das Schicksal Zeit, lernt man auch, sich zu erinnern. Wehrlos wurde er von dem nicht hierherpassenden Bild überrumpelt. Er sah einen Gummiknüppel, obwohl sich doch dank der Erinnerung sein Schwanz reckte, er vergrub unwillkürlich das Gesicht in den Händen. Um nicht zu sehen, was als Gefühl überstark war. So blieb er lange Zeit. Er konnte nichts machen, das entsetzliche Phantasiebild freute sich über die Zuflucht in seinen Lenden. Dávid seinerseits blieb in der offenen Tür des Nebenzimmers stehen. Es war das Büro des Pastors. Hier hielt der gelehrte Mann seine Bibelstunden ab, denen die örtliche Jugend in letzter Zeit eher ferngeblieben war, und hier versammelten sich in der winterlichen Gebetswoche die Mitglieder der gründlich dezimierten Kirchengemeinde. Obwohl doch der Pastor das Gefühl hatte, er reiße sich ein Bein aus, aber nichts, nicht einmal mehr jene, die kamen, waren interessiert. Ein paar alte Bänke standen an den Wänden entlang, ein altertümliches, in allen Fugen knackendes Harmonium, und der alte Schreibtisch aus Rosenholz, den der Pastor, wie es hieß, zusammen mit einem Bücherschrank aus dem Erbe seiner Urgroßmutter mütterlicherseits, der aus dem italienischen Bracciano stammenden Herzogin Odescalchi, erhalten hatte, worauf er sehr stolz war. Dávid strebte, den Arm schützend vor sich erhoben, durch das von Mondlichtstreifen beleuchtete Dunkel zur Tür, als sich hinter seinem Rücken sein Großvater vernehmen ließ, wohin er um diese Zeit wolle.
Pipi machen, sagte Dávid.
Wieso draußen, fragte der Pastor ruhig von der Richtung des Harmoniums her. Warum gehst du nicht einfach aufs Klo.
Der Junge antwortete nicht, sondern tastete nach dem Schlüssel und drehte ihn im Schloss. Er konnte seinem Großvater nicht sagen, dass er seinen Vater getroffen hatte und ihm auf seinen Wegen im Jenseits folgte.
Nachdem er die mit ihren Glasscheiben klirrende Tür sorgfältig hinter sich geschlossen hatte, sah er sich bestätigt. Das glühende Licht der niedrig schwebenden Mondsichel dehnte die tiefen Schatten der Bäume und Sträucher ins Unwirkliche.
Es war nicht unvorstellbar, dass das sein Vater sein könnte.
Jeder Schatten war an seinem Ort.
Er trat von der Treppe hinunter und ging so lange über den Ziegelweg, bis seine Sohlen auf kühles Gras trafen. Der Schatten, der vorhin aus dem Sessel verschwunden war, führte ihn nicht, sondern kam hinter ihm her. Kein Zweifel, das konnte nur er sein. Dávid war noch nicht einmal zur Schule gegangen, als man seinen Vater hingerichtet hatte, was die Familie damals nicht wusste. Er wagte nicht, sich in den offenen Pyjamaschlitz zu greifen, wie hätte er das vor jemandes Augen tun können. Auch als sie es erfuhren, sprachen sie nicht davon, sie wussten nicht einmal genau, wie die Anklage gelautet hatte. Auf diese Art blieb die Wunde offen, der Schmerz lebendig.
Dávid wusste nicht, dass man vor dem eigenen Vater ruhig pissen darf, ja, es gibt Jungen, die das ganz stolz zusammen mit dem Vater tun, weil es ihr Männlichkeitsbewusstsein muskulöser macht.
Das ist doch dein Vater, du Dummkopf.
Auf diese Aufforderung hin sog er die von den kühlen Dünsten des Flusses erfüllte Luft tief ein, und nachdem er ausgiebig gepisst hatte, trat er tatsächlich erleichtert zwischen die Schatten. Seine Schritte führten ihn über den lauwarmen Ziegelweg, der zum Schuppen führte, aber auch hier hielt er nicht an. Das Licht und die Gewissheit, dass ihm der unbekannte Vater auf seinem Weg folgte, führten ihn. Bis er den Pfad betrat, der aus dem Pastoratsgarten auf die tiefer gelegene, von Maulwürfen durchwühlte Weide am Dorfrand hinausführte.
Dort konnte er nicht mehr weiter, er erkannte, wohin ihn seine Schritte zurückgeführt hätten, es wurde wie ein Krampf. Er hatte sich geschworen, mehrmals geschworen, nie mehr zum Teich. Es war, als warte dort der Verrückte auf ihn, als würde er ihn zwingen. Dávid tat das Sinnvollste, das er tun konnte, er fiel auf die Knie, drückte die Stirn auf den Boden und schützte den Kopf mit beiden Armen vor dem Mondlicht und der Einbildung.
In Wirklichkeit wartete der Verrückte auf niemanden, sondern hockte, bekleidet mit Balters Hemd und Dávids Hose, auf den gegabelten Ästen des Aprikosenbaums. In der großen Gabelung, die Sohlen gegen den andern Ast gestützt. Zuweilen streckte er den Arm aus und aß eine Aprikose, um seinen Durst zu stillen, das waren die
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