Parallelgeschichten
ihm gewissermaßen übel, dass sein Sohn siebenundfünfzig gehängt worden war und nicht einmal ein anständiges Grab hatte. In Varrós Augen erschien der Bischof wie einer, der es doch mit den Behörden hielt oder ihnen geradezu in die Hände arbeitete, was ja auch stimmte.
Es war nicht abzustreiten, dass die trostlose Lebensgeschichte des pensionierten Gefängniswärters auch bei ihm den Wunsch nach Ruhestand wieder hatte aufleben lassen. Aber was für eine Ruhe kann man noch finden, das war die eigentliche Frage, nachdem man sie ein ganzes Leben lang vergeblich gesucht hat. Die Amtsniederlegung wäre die einzig richtige Handlung seines Lebens, dann könnte er aufhören, sich oder den anderen länger vorzumachen, dass er sein Amt anständig auszuüben weiß.
Nicht nur der Bischof, er selbst wäre sich gern losgeworden.
Nur dachte er über diese Dinge doch ganz anders als der Bischof. Dieser hatte die Interessen der Kirche und damit das Prinzip der Nützlichkeit vor Augen, die Grenzen zwischen taktischer Anpassung und erzwungener Kooperation verwischten sich. Varró hingegen vermochte nicht zu glauben, dass das Nützliche oder Unvermeidliche automatisch auch das Moralische ist, vielmehr quälte ihn dieser heidnische Gedanke. Nur das wäre eine gottgefällige Handlung, wenn er seine Intuition der Wahrheit ein einziges Mal einer einzigen Seele nahebringen könnte. Damit meinte er die reine Bereitschaft zum Glauben, wie sie ihm als kleinem Kind an einem bewölkten Tag unter dem mächtigen Himmel erschienen war und ihn seither unverbrüchlich begleitete. Die Wahrheit wurde vom Glauben bezeugt, der Glaube war der Prüfstein für das Wahrheitsgefühl, und nicht umgekehrt. Solange ihm nicht gelungen wäre, wenigstens die Bereitschaft zum Glauben einem anderen Menschen zugänglich zu machen, durfte er nicht in den Ruhestand treten, denn dann würde er sowieso keine Ruhe finden.
Sondern nur dem Bischof einen Gefallen tun, oder den Behörden, was in seinen Augen aufs Gleiche hinauslief.
Was sollte er tun, darüber zerbrach er sich den Kopf. Er gab sich auch nicht der Illusion hin, jetzt an einem Wendepunkt seines Lebens angelangt zu sein. Er wusste aus Erfahrung, dass sich die lebendige Qual immer einen aktuellen Ansatzpunkt sucht, um den Glauben an dieser Stelle anzugreifen.
Die Gemütsanspannung lässt sich ganz hochschrauben, das sogenannte praktische Denken lenkt auf diese Art vom Leiden ab.
Gerade deswegen gebrauchte er in gewissen Fällen seinen Verstand nicht, um über die Welt nicht so zu denken wie der Bischof.
Entsetzt sah er, wie sein Gebet war. Utilitaristisch, nichts anderes, es ging um den persönlichen Nutzen. Um Ablenkung von der angespannten Reflexion, damit die Qual wegrückte, obwohl sie doch in Wahrheit nie aufhört.
Was versagt einem denn am meisten die Gnade des Leidens, dieses einzige Gut der Elenden, wenn nicht die Finten der Lebenskraft.
Er stand auf, um nachzusehen, wo sein Enkel blieb. Bei dem Durcheinander in seiner Seele tat es immer gut, die Unschuld des Jungengesichts zu sehen. Auch wenn er wusste, dass in diesem Alter die Unschuld schon weitgehend Schein ist.
Er suchte ihn überall und kehrte auch immer wieder zu seiner Bürotür zurück.
Im entfernten Steinbruch quietschte die Wagenreihe gleichmäßig, er wusste genau, dass dort Gefangene arbeiteten.
Rufen wollte er nicht. Am Ende des Ziegelwegs blieb er stehen, von hier beobachtete er ihn, er wollte ihn nicht stören, nicht aufs taunasse Gras treten, er wartete.
Er rief leise seinen Namen.
Der Rücken des Jungen in seinem Pyjama rührte sich unter dem Mondlicht, richtete sich auf, sie begannen langsam aufeinander zuzugehen.
Der Pastor erinnerte sich genau, wie abstoßend er als Kind den überreifen Geruch erwachsener Körper empfunden hatte. Er machte sich Sorgen um den Jungen, hätte am liebsten jeden seiner Schritte überwacht, auch wenn er wusste, dass er ihn vor den lauernden Gefahren nicht schützen konnte. Er trat nicht brüsk an seinen Enkel heran. Die Ohrfeige, die Umarmung vom Vortag waren das Ergebnis seiner überspannten Gefühle.
Was los sei, fragte er, warum er schon wieder nicht gehorche.
Vorwürfen wich Dávid einmal mit Klagen aus, dann wieder mit Ausflüchten, er könne wirklich nichts dafür, er habe wieder schlecht geträumt.
Im blau dämmernden Dunkel beobachteten sie ernst, mit fast schon wissendem Blick die verhüllten Gefühle in den Augen des andern. Der Pastor wollte die schlechten Träume sehen.
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