Parallelum - Der dunkle Beobachter (German Edition)
ich zu den Aufzügen. Nach einer gefühlten Ewigkeit ertönt die Klingel des Aufzugs, und dessen Türen öffnen sich. Zwei Poliziotti steigen aus.
»Buongiorno, Riccardi!«, grüßen mich beide gleichzeitig.
Ich grüße zurück, steige schnell in den Aufzug und drücke die Null, dann etwa zehnmal hektisch auf den Knopf mit den zwei Pfeilen, was allerdings keine Wirkung auf die Schnelligkeit hat, mit der sich die Aufzugstüren schließen. Endlich im Erdgeschoss angekommen, warte ich nicht einmal, bis sich die Türen ganz öffnen, sondern laufe sofort los. Ich durchlebe eine Art Déjà-vu. Mein Gehör hat mich vorhin denselben Weg geführt.
Endlich am Ausgang angekommen, bleibe ich stehen. Ich hole tief Luft und öffne die Tür. Da ist er, der Schnurrbart, den ich gesehen habe; darunter der Mund, den ich zuvor sprechen gehört habe. Es ist Pinto, der einer Kollegin, Alessandra DiMario, Witze erzählt. Das habe ich mir gedacht. Wer erzählt sonst Witze über unsere Kollegen der Carabinieri? Es ist sozusagen Claudio Pintos Berufung, sich über sie lustig zu machen. Er hat nämlich noch eine offene Rechnung mit einem alten Schulfreund, der Carabiniere geworden ist.
Pinto und DiMario begrüßen mich. Ich bin völlig perplex. Es ist also wirklich wahr: Ich besitze ein übermenschliches Gehör! Noch eine Sache, die ich meiner Du-bist-nicht-normal-Eva-Liste hinzufügen kann. Wenn die Kopfschmerzen und das anschließende Schwindelgefühl nicht wären, würde mir das Gehör sogar von großem Nutzen sein. Bei der Lösung eines Falls schadet es nie, ein offenes Ohr für alles um einen herum zu haben. Aber da ich es offenbar nicht unter Kontrolle habe, ist es nur ein weiterer Klotz am Bein.
»Schon so früh hier, Riccardi?«, fragt Pinto mit einem Lächeln. Er denkt sicherlich immer noch an den Witz von vorhin.
»Ja, ich habe die ganze Nacht an dem Fall gearbeitet. Ich brauche jetzt unbedingt frische Luft; und ein Kaffee wäre auch nicht schlecht.«
»Die frische Luft bekommst du ja schon, und mit dem Kaffee kann ich dienen.« Er verbeugt sich und zeigt mit den Händen auf die andere Straßenseite. So gleicht er einem Zirkusdirektor, der seine Hauptattraktion vorstellt. Pinto ist jedoch ein Poliziotto, und seine Hauptattraktion ist »Il Bar di Gino«.
Ich lächle ihm zu, er bietet mir seinen Arm an, und ich hake mich bei ihm ein. Pinto ist seit dem Tod meines Vaters immer für meine Familie da gewesen, besonders für mich. Er wurde zu einer Art großer Bruder/Vaterfigur 2.0. Er passte immer auf, dass mir nichts geschah, und er brachte mich auch in meinen schwärzesten Momenten zum Lachen. Pinto ist immer für jeden Spaß zu haben, und ich bin ihm sehr dankbar dafür, mir bei allem zur Seite zu stehen. Ich glaube, er hat meinem Vater versprochen, auf mich aufzupassen, jedoch habe ich ihn noch nie danach gefragt.
»Was ist denn mit deinem Handy passiert?«, fragt Pinto und deutet auf das aus drei Teilen bestehende Handy in meiner rechten Hand.
»Ach, das ist mir auf den Weg nach unten aus der Hand gefallen. Ich hoffe, es funktioniert noch …«
»Na, falls nicht, kannst du meines haben.«
Und wieder hilft er mir aus. Das ist Pinto, wie er leibt und lebt.
»Eva, ich muss dir unbedingt einen neuen Witz erzählen«, sagt er enthusiastisch.
»Der Capitano zum Carabiniere: ›Wie konnte Ihnen der Räuber nur entkommen? Ich hatte doch angeordnet, alle Ausgänge der Bank zu sichern.‹
Der Carabiniere: ›Sì, Capitano, haben wir, …‹«
»… jedoch muss der Räuber wohl durch den Eingang entkommen sein«, beendete ich den Witz.
»Oh, du kennst ihn schon? Aber den habe ich dir noch nie erzählt!«
Er ist sichtlich enttäuscht, keinen Brüller geerntet zu haben. Ich kann ihm natürlich nicht sagen, dass ich den Witz zwei Etagen höher gehört habe.
»Na ja, so, wie ich die Carabinieri kenne, hätte es ja nur so enden können«, versuche ich ihn zu ermuntern.
»Haha, da hast du ja wohl recht«, antwortet er.
Wir lachen beide und gehen in Ginos Bar. Aus irgendeinem Grund fühle ich mich auf einmal beobachtet. Ich sehe mich kurz um, doch weit und breit erblicke ich niemanden.
Kapitel 6
Hoch oben auf dem Dach eines alten Gebäudes steht ein bleicher, dunkelhaariger Mann. Er trägt einen langen, schwarzen Ledermantel, der mit der Dunkelheit der Nacht verschmilzt. Von dort oben hat er einen guten Blick auf Castel Sant’Angelo , die Engelsburg. Von allen Bauten mag er diese am liebsten. Er könnte sie stundenlang
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