Parallelum - Der dunkle Beobachter (German Edition)
betrachten –genau wie die Engelsbrücke, die dorthin führt. Besonders nachts versprüht sie durch die elegante Beleuchtung einen ganz besonderen Charme. Doch seine Aufmerksamkeit gilt jemand anderem. Die ganze Nacht hält er sich schon auf dem Dach gegenüber dem Polizeirevier auf und starrt in Evas Bürofenster. Seine eisblauen Augen sehen alles, seine Ohren hören alles. Er bekommt genau mit, wie sie an dem Fall weiterarbeitet, sich immer wieder dieselbe Strähne aus dem Gesicht streicht, wie sie allein zu Abend isst und sich schließlich auch an der Torte vergreift. Er kann sich ein Grinsen nicht verkneifen. Schon viele hat er bewacht, doch sie ist mit Abstand die Amüsanteste.
Die Sonne geht langsam auf. Er will auf keinen Fall von ihr entdeckt werden und ist dabei, sich zu entfernen, als er plötzlich ein Summen hört: ihr Handy.
Ich schätze, fünf Minuten kann ich noch bleiben, denkt er. Bestimmt ist es der Betrüger von Freund, den sie hat. Unglaublich, dass sie es noch nicht gemerkt hat … Er ist ein Heuchler und mimt den Besorgten …
Sie lässt das Handy fallen und hält sich die Ohren zu. Anscheinend hat sie Schmerzen.
Sie erhält wohl eine weitere Gabe , denkt er und geht einen Schritt nach vorn. Das geht ungewöhnlich schnell. Calia hatte wohl recht.
Calia, seine »Mentorin«, als die er sie gern bezeichnet und die ihm seine Aufträge gibt, hat gesagt, Eva sei anders.
»Du musst aufpassen, Marco. Sie ist anders und sehr stark, und sie ist wichtig für die Organisation. Du musst alles dafür tun, damit sie nicht in die falschen Hände gerät.« Genau das hatte Calia zu ihm gesagt, bevor sie ihm Eva zugeteilte.
Da hat sie nicht untertrieben , denkt Marco, als er Zeuge wird, wie diese nur scheinbar gewöhnliche, tollpatschige junge Frau es schafft, die Laute zu lokalisieren und die Oberhand zu gewinnen. Die meisten, wenn nicht sogar alle, werden ohnmächtig, schreien und bekommen die Gabe nie unter Kontrolle.
Als er sie das erste Mal am Tatort gesehen hat, dachte er, sie sei wieder ein gewöhnlicher Auftrag: eine junge Frau, die ihre Gabe erhalten würde und nichts damit anfangen könnte; eine, die sich nur beschweren würde und sich letztlich als totaler Reinfall entpuppen würde wie seine letzten zwei Aufträge. Sie haben nie die Oberhand gewonnen und haben dann die falsche Seite gewählt.
Mit ihr wird das anders. Eva ist tough. Endlich ein guter Auftrag , denkt er zufrieden.
Marco blickt noch einmal in Evas Richtung und wartet, bis sie in »Il Bar di Gino« verschwunden ist. Er grinst, feine Grübchen bilden sich um seine schmalen Lippen. Dann streicht er sich mit der rechten Hand über sein schwarzes Haar, dreht sich um und verschwindet in der Ferne.
Kapitel 7
Das ist jetzt genau das Richtige – oder wie Pinto zu sagen pflegt: »Ein guter Kaffee am Morgen vertreibt dir alle Sorgen.« Ich müsste jedoch einen ganzen Kanister trinken, um meine Sorgen zu vertreiben.
Wir sitzen an unserem üblichen Platz ganz rechts am Tresen. Das ist Gewohnheit der Polizei, sich immer dorthin zu setzen, von wo man alles genau beobachten kann. Gino, der Barista, stellt mir immer schon ein Mini-Cornetto hin, da er weiß, wie sehr ich sie mag. Pinto bekommt »La Gazzetta dello Sport«, eine rosafarbene Sportzeitung, die er jeden Morgen liest.
Ich setze mein Handy wieder zusammen. Bis auf einen kleinen Riss am Display ist es glücklicherweise vollkommen funktionsfähig. Kaum ist es an, vibriert es schon: fünf entgangene Anrufe; zwei von Giovanni, zwei von Francesco und einer von Commissario Lovato. Plötzlich ertönt das Lied eines süditalienischen Volkstanzes.
»Ist es eine Tarantella?«, frage ich Pinto.
»Tarantella. Tatara … tatara …«, singt Gino und fängt an zu tanzen.
»Ja, sie macht einen immer so munter, nicht?«, fragt Pinto, während er sein Handy aus der linken Hemdtasche seiner Uniform nestelt.
»Den Klingelton hat mir DiMario, die neue Poliziotta, zugeschickt. Sie kommt genau wie ich aus Sizilien, wusstest du das?«, fragt er und geht an sein Handy.
Ich schüttle den Kopf, um seine Frage zu beantworten.
»Pronto? Sì …, sì, sie ist bei mir. Wir sind gleich da.«
Er legt auf und dreht sich zu mir: »Eva, das war Francesco. Ein weiteres Mädchen wurde, genau wie das letzte Opfer, blutleer aufgefunden. Wir müssen schnell los.«
»Na gut, lass uns gehen«, sage ich, während ich den letzten Bissen des Cornettos esse und mit dem Kaffee hinterherspüle.
»Ciao, Gino – und
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