Parallelum - Der dunkle Beobachter (German Edition)
sorgen muss. Kurz nachdem ich diese seltsame Begegnung oder Halluzination hatte, habe ich mit den Eltern des Opfers gesprochen. Sie haben nur Gutes über ihre Tochter zu sagen gehabt: ein sehr nettes, zuvorkommendes Mädchen, das regelmäßig in die Kirche gegangen sei und die Kinder des dortigen Chors unterrichtet habe. Sie habe viele gute Freunde, aber keine Feinde gehabt. Anfangs habe ich gedacht, die Eltern redeten alles schön, um die Erinnerung an die Tochter nicht zu beschmutzen. Doch jeder der Befragten hatte, unabhängig voneinander, nur Gutes über sie zu sagen und bestätigte schließlich die Aussage der Eltern. Ich beschrieb jedem Einzelnen den dunkelhaarigen Mann und stellte Fragen zu ihm, doch keiner scheint ihn jemals gesehen zu haben. Somit habe ich also einen Fall, in dem das Opfer – ein sehr beliebtes, nettes, anscheinend feindeloses Mädchen – in brutalster Weise getötet wurde, und nicht eine wirkliche Spur, die zum Täter führen könnte.
Als ich am Tatort mit den Befragungen fertig bin, fahre ich in mein Büro. Es gibt zahlreiche Ereignisse, die ich noch verarbeiten muss. Das Beste für mich ist, mich auf die Arbeit zu konzentrieren. Ich setze mich an meinen nicht gerade großen Schreibtisch. Die meiste Fläche ist mit Akten, Formularen und Rechtsbüchern bedeckt. Mein Computer steht auf der rechten Seite des Tisches. Ich habe gerade genug Platz, um einen aufgeschlagenen Aktenordner darauf zu legen, nicht mehr und nicht weniger. Für jeden, der in meinem Büro gewesen ist, steht fest, dass ich sehr unordentlich wäre, aber ich nenne es gerne meine unordentliche Ordnung. Es sieht zwar nicht sehr schön aus, doch ich finde alles auf Anhieb, und nur darauf kommt es an.
Ich schaue zu meiner Linken aus dem Fenster. Die Sonne wird bald untergehen. Mein Magen fühlt sich nicht gut an und knurrt schon seit einer Weile. Ich habe nach dem Frühstück nichts mehr gegessen, und das war vor zwölf Stunden gewesen. Signor Valastro, der Inhaber der Bäckerei, hat ein Probierpaket zusammengestellt und mir geschenkt. Ich bekomme öfter etwas geschenkt, das gehört schon fast zum Berufsrisiko. Jeden Tag gehe ich zum Beispiel in »Il Bar di Gino« und bekomme dort einen Kaffee gratis, oder ich gehe in diverse Bäckereien, und die gibt es hier wie Sand am Meer, bekomme öfter Süßes geschenkt, als mir wegen meiner Diät lieb ist, und einen Kaffee noch dazu. Wenn ich recht darüber nachdenke, kann der viele Kaffee ja der Grund für meine Schlafprobleme sein. Doch rasch schiebe ich den Gedanken genauso schnell wieder beiseite, wie er mir in den Sinn gekommen ist. Die Leute schenken einem diese Sachen, weil sie großen Respekt vor der Polizei haben. Genauso ist es bei Ärzten. Alberto erzählt auch ständig davon, vieles geschenkt zu bekommen. Alberto – von ihm habe ich den Rest des Tages nichts mehr gehört. Was er wohl über mich denkt?
Ich öffne das Paket und verschaffe mir erst einmal einen Überblick über dessen Inhalt. Zu meiner Erleichterung enthält es nicht nur Süßes, sondern auch vieles andere. Als Erstes esse ich eine Arancina, ein Reisbällchen mit Tomaten-Mozzarella-Füllung. Dann nehme ich ein großes Stück Käsepizza mit gegrilltem Gemüse. Ich bin zwar satt, doch angesichts dessen, was heute alles passiert ist, genehmige ich mir auch ein großes Stück Schokoladentorte. Scheiß auf die Diät, ich habe es mir verdient!
Nach dem Essen fühle ich mich schon viel besser. Ich überlege einen Moment lang, nach Hause, zu Giovanni, zu fahren, doch ich beschließe, erst ein wenig an dem Fall weiterzuarbeiten. Dann schaue ich wieder aus dem Fenster und beobachte, wie sich die Sonne langsam senkt und sich die Dunkelheit ausbreitet. Bis tief in die Nacht arbeite ich an dem Fall weiter, dabei mache ich eine erschreckende Entdeckung: Vor vier Tagen wurde ein Mann mittleren Alters tot aufgefunden. Er ist genau wie Isabella Greci an massivem Blutverlust gestorben. Als ich die Fotos sehe, stockt mir der Atem: Der Mann wurde genauso hinterlassen wie Isabella. Die Oberarme voller blauer Flecken, zerrissene, blutgetränkte Kleidung; und genau wie bei dem jungen Mädchen ist auch bei ihm aus Ohren, Augen, Mund und Nase Blut geflossen.
Haben wir es hier mit einem Serienmörder zu tun? Wie erzeugt der Täter diesen massiven Blutverlust? Nach welchem Muster sucht er seine Opfer aus? Beide Opfer hätten unterschiedlicher nicht sein können: ein Mann mittleren Alters und ein junges Mädchen, die anscheinend
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