Parallelum - Der dunkle Beobachter (German Edition)
habe die Leiche zwar noch nicht gesehen, jedoch habe ich ein ungutes Gefühl. Irgendetwas stimmt mit diesem Fall nicht, das ahne ich; ich weiß aber nicht, wieso.
Francesco führt mich zur Leiche. Er sagt, sie liege noch genauso da, wie sie vorgefunden worden sei. Das arme Mädchen wurde misshandelt. Ihre Oberarme sind voller blauer Flecken, ihre blonden Haare blutgetränkt. Aus Ohren, Augen, Nase und Mund ist Blut geflossen. Ihre Kleidung ist völlig zerrissen und verdreckt. Auch diese ist von Blut übersät. Von diesem Anblick an wird mir mulmig zumute. Einzelne Bilder blitzen vor meinen Augen auf:
Eine zerrissene Uniform der Polizia.
Unendlich viel Blut.
Blaue Flecken.
Anschließend das schmerzverzerrte Gesicht meines Vaters …
Ich fühle mich wie in einem meiner Albträume. So starre ich in die Leere und umklammere meinen Oberkörper. Ein stechender Schmerz durchfährt meinen ganzen Körper. Ich war sehr jung, als er starb, aber nicht zu jung, um zu verstehen, was geschehen war. Als ich als Beraterin bei der Polizia anfing, war das Erste, was ich tat, mir die Akte meines Vaters anzusehen. Es befanden sich Fotos darin, die ich nie hätte sehen dürfen. Sein Fall wurde nie geklärt. Man wusste, es war ein kaltblütiger Serienmörder, der vor meinem Vater drei weitere Opfer genau nach demselben Muster umgebracht hatte, jedoch wurde dieser Mörder nie gefasst. Damals war es mein sehnlichster Wunsch, den Täter zu schnappen und hart für das, was er meinem Vater und somit auch mir und meiner Familie angetan hat, zu bestrafen. Nun bin ich schon vierundzwanzig Jahre alt, seit fast sechs Jahren bei der Polizia di Roma und bin in dem Fall noch keinen Schritt weiter.
»Riccardi!« Francesco reißt mich aus meinen Gedanken. »Ist wirklich alles in Ordnung mit dir?«, fragt er besorgt.
Ich banalisiere alles und winke ab. »Ach, mach dir keine Sorgen um mich. Wie gesagt, ich bin nur etwas müde«, beschwichtige ich.
Francesco mustert mich von Kopf bis Fuß. Er sieht sehr skeptisch aus, was meine Ausrede angeht.
»Eva Riccardi!«, ertönt Giovannis Stimme hinter mir. Erschrocken denke ich daran, was in Albertos Praxis passiert ist. Hat er schon mit ihm gesprochen? Hat Alberto ihm erzählt, dass ich nicht normal bin? Ich drehe mich zu ihm um und versuche zumindest, ganz normal zu wirken.
»Hey …«, das ist das Einzige, was ich sage.
»Ciao, Giovanni, wie geht’s?«, fragt Francesco. Seitdem ich mit Giovanni zusammen bin, sind Francesco und er gute Freunde geworden.
»Bis jetzt geht es mir ganz gut, aber ich sehe, es kommt viel Arbeit auf uns zu«, antwortet Giovanni und wirft kurz einen etwas angewiderten Blick auf die Leiche.
»Ja, unmöglich, was mit dem armen Mädchen angestellt wurde! Ich muss los und bei den Befragungen helfen. Wir sehen uns. Riccardi, pass auf dich auf!«, sagt er und geht.
»Was meinte er damit, du solltest auf dich auspassen?«, fragt Giovanni und beginnt in seiner komplett weißen Arbeitskleidung den Tatort zu fotografieren. Seit einiger Zeit kümmert er sich ausschließlich darum, die Tatorte zu dokumentieren. Mit seiner riesigen Kamera ausgerüstet, fotografiert er jedes noch so winzige Detail; erst den gesamten Tatort aus verschiedenen Perspektiven, dann alle Einzelheiten.
»Ach, nichts. Das sagt er immer. Ist so seine Art, sich von mir zu verabschieden«, lüge ich.
»Mhm, ist mir noch nie aufgefallen. Warst du eigentlich bei Alberto?«, fragt er und fotografiert dabei die einzelnen Risse der Kleidung des Opfers.
»Ja, es ist nichts … nur der Stress«, lüge ich erneut in der Hoffnung, er wird das Gespräch nicht weiter vertiefen wollen.
»Oh, gut. Ich habe nämlich versucht, ihn anzurufen, um zu erfahren, ob alles in Ordnung ist, aber ich konnte ihn nicht erreichen. Er geht sonst immer ran, wenn er meine Nummer sieht«, sagt er verwundert und blickt kurz zu mir.
»Das liegt wahrscheinlich daran, dass so viele Patienten im Wartezimmer waren. Er hat wohl zu viel zu tun«, lüge ich schon wieder. In Wirklichkeit waren nur zwei Patienten im Wartebereich.
Giovanni nickt nur und beginnt wieder zu fotografieren. Er dokumentiert jede noch so unbedeutende Kleinigkeit, die man gar nicht auf den ersten Blick bemerkt, die dann jedoch fundamental bei der Lösung der Fälle sein kann.
»Na, zum Glück konntest du schnell zu ihm rein. Es hat große Vorteile, mit einem Arzt befreundet zu sein«, stellt er fest und grinst mich dann an.
»Riccardi! Riccardi!«, ruft jemand hinter mir.
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