Paranoia
Bild eigentlich. Relativ gesehen.
43
Etliche Stunden später fliegen Ben und ich in einer Lufthansa-Maschine nach München zurück. Wenn ich die Wahrscheinlichkeit bedenke, zweimal im Leben in einem Flugzeug zu verunglücken, fühle ich mich fast schon immun gegen
jede
Katastrophe. Ich bin unverwundbar, außer Gefahr. In dieser Hinsicht.
Ähnlich verhält es sich bei Krankheiten. Bin ich beispielsweise erkältet, gehe ich felsenfest davon aus, allen anderen Ansteckungsherden gegenüber immun zu sein. Im Sinne von: Ich bin ja schon genug gestraft. Und Krisenherde werden sich wohl kaum gleichzeitig auftun. Sei’s drum. Ich schweife ab.
Angesichts all dessen scheint es mir gerade irgendwie nur recht und billig, dass der Flug hoffnungslos überbucht ist, wir vorhin zu allem Überfluss auch noch eine Dreiviertelstundeauf der Startbahn standen und dass neben mir ein von Schüttelkrämpfen geplagtes Bauernmädchen mit Krautstampferbeinen und Blumenkohlohren (E-Mensch) sitzt. Das nach krank stinkt. Alles kein Problem.
Kurz vor 23 Uhr setzen wir auf dem Flughafen auf. Endlich.
Wir ahnen, was uns erwartet. Ben hat bereits eine Einladung zu
stern
TV, kommenden Mittwoch. Aber ich bin natürlich die Hauptattraktion und habe einen TV-Exklusivdeal mit Markus Lanz im ZDF geschlossen. 20 Minuten Netto-Gesprächszeit. Meine Erlebnisse. Morgen gebe ich dem
Spiegel
ein Interview. Print-Exklusivdeal. Ein Witz, das alles.
Irgendwie haben wir den Tag bis hierher überlebt, das Telefon stand kaum still. An die dreißig Redakteure haben unsere Handynummern ausfindig gemacht, uns den ganzen Nachmittag mit Anrufen bombardiert und Angebote und Vorverträge aufs iPhone geschickt. Wir leiten alle Anfragen an Joel weiter, und der wiederum delegiert sie an einen Kollegen aus seiner Kanzlei, der auf Medienrecht spezialisiert ist und für uns jetzt den ganzen Popanz koordiniert.
Ben und ich verlassen als Erste die Maschine und bilden daher die Speerspitze der aussteigenden Passagiere, die hinter uns hertrotten. Wir folgen den gläsernen Schildern mit den senkrechten Lettern
E
X
I
T
und hoffen, den richtigen Weg zu wählen, die richtigen Abzweigungen zu nehmen, sieht ganz so aus, gleiten auf einem kurzen Laufband Richtung Richtig, lassen die Gepäckausgabe rechts liegen, da unsere Koffer erst morgen eintreffen und uns per Post zugestellt werden. Wir werden durch die Passkontrolle gewinkt und sehen durch die Glaswände des Terminalausgangsschon die versammelte Reporterschar, durch die wir uns gleich werden drängeln müssen. Die automatischen Schiebetüren öffnen sich, und wir stehen mitten im gleißenden Licht der Fernsehscheinwerfer und des Blitzlichtgewitters. Hallo Leute. Déjà-vu. Alles in Zeitlupe. Nicht stehen bleiben. Die von den Scheinwerfern aufgeheizte Luft riecht, als hätte die ganze Halle furchtbar schlechten Atem. Ich verfalle in einen tranceartigen Zustand und bekomme nur noch am Rande mit, dass ich mein Schritttempo erhöhe, erröte, ein schiefes, fatalistisches Lächeln aufsetze und die Augen senke, nicht sosehr, um nichts zu sehen, als in der irrigen Hoffnung, so nicht gesehen zu werden. Nicht zu fassen, meine Reflexe. Fotografen fordern uns auf, in ihre Richtung zu schauen. Mikrofone werden uns ins Gesicht gehalten und Fragen durcheinander zugerufen, denen wir mit vielsagendem Schweigen begegnen. Jemand knipst mich, oder mehrere knipsen mich, als ich gerade leicht mit Ben zusammenremple, weil wir beide geradeaus gehen wollen, von dem Begriff geradeaus aber unterschiedliche Vorstellungen haben. Ich zucke dabei ein wenig zusammen. Somit dürfte meine Schreckhaftigkeit auf dem Bild zu sehen sein. Leise Verlorenheit beigemischt. Jemand tritt mit ausgestreckter Hand zu mir vor, möchte meine Bekanntschaft machen. So mir nichts, dir nichts. Trick 17? Er kommt mir bekannt vor, aber ich weiß sein Gesicht nicht so recht einzuordnen. Bestimmt nur ein dreister Pressemensch. Ignorieren. Für heute haben wir genug Überraschungen erlebt. Ab durch die Mitte. Ich kämpfe mich wortlos weiter durch das Getümmel, vorbei an noch jemandem, der mich anspricht, könnte-ich-nicht-bitte-nur-ein-kurzes-Statement – genau so schaust du aus! – ich aktiviere ein angedeutetes Kopfschütteln, laufe weiter, wirklich jeder will meine Stimme hören, Hauptausgang, wieder Schiebetüren, Luft, aberwitziges Wetter, fieberhaft umherhuschender Blick, habe Ben verloren, Mist, auf den Parkstreifen schauen, absuchen,da: Lichthupe, Erleichterung, nichts
Weitere Kostenlose Bücher