Paranoia
und macht die paar Schritte zum Ausgang. Ihr energischer Gang passt zu ihrem Mund. Ihre Kinnpartie ähnelt übrigens der von Schwester Eleonore, die mich als Kind nie geschlagen hat, weil sie eiskalte Wasserbäder für probater hielt.
Dass Eva Braun gerade – anstatt zu ziehen – die Glastür drückt und kurz innehält, um zu überlegen, warum sie sich nicht öffnen lässt, macht einiges wieder wett. Entschädigende Schadenfreude für einen Fingerschnipp lang. Sie verschwindet, weg ist sie. Geschafft. Das Ende einer vielleicht vierzigsekündigen Episode. Die Tür schwenkt langsam zu und geht wieder auf, noch bevor sie ganz schließt. Ein neuer Kunde tritt ein, ohne den Hauch einer Ahnung davon zu haben, was sich hier vor wenigen Augenblicken abgespielt hat.
Und jetzt sitze ich da, erniedrigt und erregt. Schöne Bescherung. Es gibt Tage, die ein einziger so dahingeworfener Spruch ruinieren kann. Das ist kein Novum. Aber das da, das da, also das da stellt den Kulminationspunkt dar. Ich habe so viele unterschiedliche Gefühle, dass keines die Überhand gewinnt. Daher verfalle ich in tiefes Nachdenken: Ja, ich möchte sogar die Belegschaft hier drinnen aufklären, dieses unbedeutende Gesindel, wie das mit der Zeitung wirklich war. Man stelle sich vor! Wie ich verleumdet wurde … unschuldig beschuldigt … eine Wahnsinnsungerechtigkeit! Hätte ich doch bloß interveniert, die richtigen Worte gefunden während der Konfrontation! Ärgerlich! Oder besser noch, gleich etwas Souveränes gesagt wie: »Verschwinde! Mach, dass du rauskommst!« Auch wenn das gar nicht mein Stil ist und ich mich dabei wohl angehört hätte wie ein schlechter Actionfilm-Imitator! Und diese Tobsüchtige, diese Tolle, diese Zerrbild-Eva-Braun hat sich durch ihren Ausbruch vielleicht sogar noch eine gewisseErleichterung verschafft! Oder es berauschte sie! Und dann ziehe ich es zu allem Überfluss sogar noch in Betracht, ihr hinterherzulaufen und
ihr
die Faktenlage zu schildern, nämlich dass sie mir Unrecht getan hat! Also vor
ihr
Rechenschaft abzulegen – »Sie haben sich getäuscht«! Kläglich! Schande, Schande über mich! Aber sogar das wäre ja ausweglos, nichts würde sie zur Besinnung bringen! Und dann wiederum möchte ich ihr nur folgen, um ihr die Fingerkuppen abzutrennen! Grauenerregend! Ich bin ganz durcheinander, spiele alle Möglichkeiten durch und möchte doch eigentlich gar nicht weiterdenken. Aber immer, wenn ich Situationen rekapituliere, merke ich: Ich kann es mir nie recht machen. Überhaupt darüber nachzugrübeln geht mir unheimlich gegen den Strich! Schrecklich! Ich bin doch jetzt auf den Titelseiten, bin doch jetzt mit ganz anderem beschäftigt! Und dann so was! Solch eine Lappalie, solch ein Kleinscheiß, solch eine Posse!
Wieder einmal verspüre ich das schwere Stechen von Erniedrigung und Demütigung. Darauf läuft es bei mir immer hinaus.
Im selben Moment, in dem mich eine männliche Türkenstimme fragt, was ich bitte bekomme, erscheint mein Leben im Licht einer kalten, hoffnungslosen Ausweglosigkeit. Eine Insidon täte not. Wenn ich mich ärgere, werde ich schlagartig depressiv.
Wacker gebe ich bei dem Ober (C-Mensch) meine Bestellung auf und vermeide, auf die rosafarbene Pigmentstörung neben seiner Nase zu sehen. Mich verwirrt zusätzlich, wie er mich mit seinen runden osmanischen Augen anschaut. Auf eine Art, die er wohl für aufmunternd hält. Zauberhaft. Die schlechteste Sorte schrecklich guter Absichten. Das sagt mir nicht zu.
Alles andere als in Lesestimmung, klappe ich trotzdem meine um fast fünfzig Prozent überbezahlte Zeitung auf. TausendProspekte und Werbebeilagen fallen mir entgegen. Und auf den Boden. Auch das noch.
Bücken, aufheben, aaah!
Es dauert einige Minuten, bis sich mein Puls wieder beruhigt. Dann möchte ich sterben. Agonie. Genervt vom Mangel an innerer Coolness und verzweifelt an der Menschheit. Was für eine Erleichterung doch eine größere seelische Unempfindlichkeit mit sich bringen würde.
Ich lehne mich zurück, damit der Kellner den Kaffee abstellen kann. Es wird kein gemütliches Frühstück. Zeitung in der einen, Tasse in der anderen Hand, starre ich auf die dicken Flocken, die an die Fensterscheiben und den quer darüber verlaufenden Schriftzug
Café Herrmannsdorfer’s
prallen. (Ein weiterer falscher Genitiv-Apostroph.) Mein Mund ist voller Blut, meine Wunde an der inneren Lippe voll aufgerissen.
Hastig werfe ich dann doch noch einen Blick in die AZ. Neben dem Bericht, der
Weitere Kostenlose Bücher