Paranoia
übt definitiv eine selbstkorrumpierende Wirkung aus.
Ich biege in die Maximilianstraße ein. Vor mir ein Audi A5. Ich folge ihm jetzt schon seit vier Straßen. Diesem Amateur, der beim Abbiegen jedes Mal ausholt. Ausholen beim Abbiegen ist indiskutabel. Ein silberner Audi A6 drängelt sich zwischen uns. Kann es sein, dass feindlich gesinnte Außerirdische Kurs auf die Erde nehmen und ihre ausgesandten Strahlen weltweit die Blinker sämtlicher Autos lahmlegen? Keine Sau blinkt. Aber keine Sau.
Wir parken auf dem letzten Standplatz eines für Taxis reservierten Wartestreifens. War sonst nichts frei. Sorry, Jungs.
Wir steigen aus. Die Stadt ist grau und kalt. Fynn zeigt auf ein Reklameplakat an einer Trambahn-Haltestelle, das für einen neuen Hollywood-Blockbuster wirbt. Es zeigt die drei Köpfe der Hauptdarsteller. Jeder der Schauspieler schaut in eine andere Richtung. Über ihnen, am obersten Rand, stehen ihre Namen. Fynn fragt mich, warum der Name des rechten Schauspielers über dem linken steht. Und umgekehrt. Nur der mittlere Name prangt korrekt zugeordnet über dem mittleren Akteur. Das ist mir auch schon oft aufgefallen. Woran das liegen mag, weiß der Geier. Ich zucke die Achseln. »Das ist mir auch schon oft aufgefallen. Woran das liegt, kann ich mir auch nicht erklären. Aber wir können uns den Film nachher ansehen, wenn du wollen«, sage ich im Infinitiv, die alte Masche, durch inflationäre Verwendung schon etwas schal, und gebe ihm einen scherzhaften Klaps auf den Hinterkopf. Ein Versuch, ihn aus der Reserve zu locken.
»Aber der seien doch erst ab 18, Connie!« Seine Worte bilden in der Luft längliche Wolken aus Dampf.
»Ah, du haben recht, dann ist er nichts für mich. Danke, dass du mitdenkst. Filme, die erst ab 18 freigegeben sind, sind ja eigentlich uninteressant für Menschen über 30 und nur von Belang für Menschen unter 18. Ich vergaß. Wie rücksichtsvoll von dir.«
Jetzt sieht er mich wieder an, wie ich ihn in solchen Momenten kenne:
Ich-weiß-ja-dass-du-immer-dumme-Witze-machst-Connie-aber-doch-nicht-gleich- so -dumme
!
Ich bin etwas erleichtert und drücke ihn sanft durch die Tür des
Vier Jahreszeiten
, während ich sage »Der läuft eh noch nicht«.
Auf dem Teppich des Eingangsbereichs entdecke ich einen Fleck auf dem Boden und stelle bei genauerem Hinsehen fest, dass dieser Fleck Licht von einem Deckenstrahler ist.
Wir gehen direkt in das Restaurant des Hotels, in dem ich um 12 Uhr 30 mit zwei Journalisten vom »Spiegel« verabredet bin. In einer guten Stunde also. Wir haben noch genügend Zeit.
Das Essen schmeckt uns, und obwohl ich versuche, das Thema strategisch einzukreisen, erzählt mir Fynn auch jetzt nichts von dem elfjährigen Patrick, der ihn seit Wochen tyrannisiert. Ein für sein Alter hünenhafter Wichser jamaikanischer Herkunft. Ich weiß durch Esther davon. Fynn hat sich ihr anvertraut und bei ihr ausgeweint. Warum sagt er so was nicht mir? Das macht mich ratlos, weil ich weiß, wie sich Unterdrückung anfühlt. Als ich in Fynns Alter war, hat mir auch ein älterer Typ das Leben zur Hölle gemacht. Ein kaputter, kaltblütiger Bastard. Von der Sorte gab es reichlich. Die finstere Brut, die einen lehrt, was der Mensch dem Menschen antun kann. Ein Kinderheim ist wie eine Sondermülldeponie. Der Mülleimer der Gesellschaft. Die dort entsorgten Kinder sind größtenteilsAusgeburten sozial schwacher, unterprivilegierter Eltern und die angeschlossenen Schulen, Internate oder Tagesheime beherbergen zusätzlich die abgeschobenen Problemkinder von Wohlhabenden, die aus disziplinären Maßnahmen tagsüber oder während der Arbeitswoche dort abgeladen werden. Überdrehte, schwer erziehbare Bonzenkinder oder Nachkommen solventer Bauern und Landadelspack ohne Halt und Gespür für Relationen. Dem ist man tagtäglich ausgesetzt und kann nur versuchen, sich irgendwie zu arrangieren. Eine feine Sache. Es gilt zu lernen, wie man seine Identität wahrt, auch wenn um einen herum nur Gewalt herrscht, mit der man versucht, diese Identität zu zerstören. Keine Grundrechte, keine Würde, keine Fairness. Man lebt in ständiger Angst – auch davor, seine Angst zu zeigen. Von dem, was mit mir gemacht wurde, mag ich niemandem erzählen. Aber ab einem gewissen Punkt habe ich alle Hoffnungen aufgegeben. Und auf die Frage, ob völlige Hoffnungslosigkeit wirklich möglich ist, müsste ich antworten: Nur wer schon mal in so einer Situation war, kann das beurteilen. Die meisten Menschen gelangen
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