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Paranoia

Paranoia

Titel: Paranoia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robin Felder
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niemals an diesen Punkt, an dem sie eine Ahnung davon bekommen könnten, was für Abartigkeiten möglich sind, und dass rein gar nichts von Natur aus tabu ist. Erst wenn einem selber etwas Derartiges passiert, weiß man, um was es sich handelt. Alles andere sind nur unechte Ideen und abstrakte Begriffe. Ein glückliches Leben ist nichts weiter als ein einziges Ablenkungsmanöver. Ein einziges Ignorieren. Ich weiß zu viel über das Leben, als dass Glück für mich noch vorstellbar wäre.
    Noch schlimmer als die Erniedrigungen selbst ist es, das Erlebte in der eigenen Gedankenwelt einzuordnen. Man lernt, sich abzuschalten, bis zu dem Grad, ab dem die Gewalt nicht mehr das Geringste bedeutet. Man reduziert seine Bedürfnisse auf das Nötigste. Aber das Danach, die Nächte, in denen manversucht, den Geschehnissen einen Platz in seinem Kopf zuzuweisen, das ist das eigentlich Schwierige. Ja, nachts denkt man am häufigsten daran. Man fragt sich, warum tut man mir das an? Aber du weißt gleichzeitig, da kannst du lange fragen, es gibt keine Antworten.
    Überlebt habe ich das dank meiner großen Anpassungsfähigkeit. Ich weiß nicht, ob Fynn die hat. Auch wenn ich weiß, die Bedingungen, unter denen er lebt, sind deutlich besser, als meine es waren. Ich glaube, vonseiten der Erzieher droht ihm keine Gefahr.
    Ich schneide schweigend auf meinem Teller herum – mein Besteck macht einen ziemlichen Lärm – und versuche gedanklich abzubiegen, bevor ich richtig schlecht draufkomme und es kein Zurück mehr gibt. Manche Sachen lässt man besser ruhen. Nein, auf Erinnerungen an meine Kindheit kann ich verzichten. Doch womöglich ist es nicht ganz umsonst, dass ich sie dennoch nicht vergessen kann. Für Fynn.
    Er bringt seinen gekippten Stuhl in Normalposition und nimmt wieder einen kleinen Bissen von seinem Schnitzel. Kaut lang daran herum. Uneins mit sich. Er hat jetzt ganz unvermittelt zwei rote Pünktchen auf seiner Wange. Die bekommt er, wenn ihn etwas nervlich stresst. Ich lächle ihn an und habe im tiefsten Innern das Gefühl, weinen zu müssen. Und das nach drei Tabletten.
    Um uns herum sitzen lauter gutgekleidete, vornehme Leute. Leute von der Sorte, die mit leichtem Gepäck reist. In ihren Gesichtern ein Ausdruck weder lebendig noch tot.
    Bereit für einen Themenwechsel, frage ich Fynn, wenig subtil: »Und mit den Jungs aus den höheren Klassen ist auch alles cool?«, damit er mich noch mal belügen kann. Wahrscheinlich würde ich dasselbe tun.
    »Yo, alles cool«, sagt er und versucht unbeteiligt zu klingen, was ihm nicht ganz gelingt. Er rührt dabei das Eis in seinerCola mit dem extra bestellten Strohhalm um. Strohhalm muss sein, wenn möglich. Ich nicke wider besseres Wissen und führe meine Gabel zum Mund. Dabei betrachte ich ihn, deutlich bemüht, mich überzeugen zu lassen, und mir fällt auf, sein Baumwollshirt schlottert ihm dermaßen um die Glieder, dass das nichts mehr mit trendig zu großer Kleidung zu tun haben dürfte. Er ist regelrecht abgemagert. Oder ist es nur Einbildung, sein ausgezehrtes Gesicht? Während ich ihm zusehe, wie er die ausgehöhlten Eiswürfel mit dem Strohhalm, einen nach dem anderen, leer saugt, vibriert mein lautlos gestelltes Handy durchgehend in meiner Hosentasche und wird von mir nicht beachtet.
    »Schmeckt’s dir?«, frage ich nach einer Weile.
    »Ist super«, sagt Fynn, und seine Stimme klingt so einsam.
    »Ist super?«, wiederhole ich und verstehe total, was er damit meint.

49
    Ich zahle und lasse Fynn entscheiden, ob er mit im Zimmer sein möchte, wenn ich das Interview gebe. Er will unbedingt.
    Auf dem Weg aus dem Restaurant passiert uns ein spätes Mädchen, siebzig Minimum, unguter Blick, hässlich wie die Nacht (H-Mensch), ebenso unansehnlich wie ihr Leben öde und bald vorbei ist. Ihre graugetigerte Pelzjacke scheint Fynn unendlich zu provozieren, er schaut sie durchdringend an. Er hat ja recht, blöde Nerzfotze. Feststehender Begriff. Eigentlich handelt es sich bei dem Mantel um einen Ozelot. Kurioserweise hebt das schöne Tierfell die Scheußlichkeit der Schabracke nur noch mehr hervor. Fehlt vom Typus Frau her nur noch das degenerierte Schoßhündchen unterm Arm. Ich packe Fynn an der Schulter und signalisiere ihm nickend eine stillschweigendeBeipflichtung, aber weise ihn gleichzeitig zurecht, jetzt nicht den Schwierigen zu spielen. Klappe halten. Das fällt ihm sichtlich schwer. Ihm, der mir regelmäßig allgemeingültige Standpauken hält über (1) unverantwortliche

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