Paranoia
Abfertigung beschleunigen würde. Und wie es der Zufall so will, stellt sich das nackte Teemädchen von der Wohnung gegenüber hinter mich. Vollständig angezogen. Ich habe sie wirklich noch nie auf der Straße oder sonst wo getroffen. Heute erstes Mal. Ausgerechnet heute. Das wirkt ominös. Ich erschrecke zunächst unmerklich und lasse meinen Blick nicht zu lange auf ihr haften, um zu eruieren, ob sie mich erkennt. Das sollte möglich sein. Sie schaut mich an, und ihre Mimik legt kein Wiedererkennen an den Tag. Sie hat eines dieser Gesichter, dem grundsätzlich kein Lächeln entkommt. Und auch sonst nicht viel. Das ist gut. Dann geht es mit uns beiden weiter wie bisher.
Ich drehe mich vollständig von ihr weg, als hätte ich gerade etwas enorm Wichtiges erledigt, und stelle den Pickel-Abdeckstift und meinen kleinen Karton von Yves Saint Laurent auf das Laufband. An der Kasse sitzt ein Contergan-Opfer. Eine kleine, verhutzelte Frau, mit chronisch vornübergebeugtem Körper. Ein verkümmerter Unterarm, der direkt aus der Schulter wächst. Auf der anderen Seite ihres Oberkörpers eine Hand, die spastisch nach innen gewinkelt ist. Es tut direkt weh, ihr beim Kassieren zuzusehen, aber sie stellt sich erstaunlich geschickt an. Ist wieselflink. Der Pharma-Skandal dürfte um 1961/62 gewesen sein. Die Geschädigten werden auch schön langsam alt. Schlimme Sache. Ich schätze mal, diese entstellten Kreaturen haben ebenfalls alle einen ziemlichen Hass auf ihre Mütter. Contergan war bloß ein Schlafmittel. Ich meine, die dummen Trullas hätten doch damals das Zeug nicht schluckenmüssen. Schlaflosigkeit gehört zu den typischen Schwangerschaftssymptomen, und man muss doch nicht wegen jeder Kleinigkeit was einschmeißen. Gerade wenn ich schwanger bin, nehme ich doch keine Chemie zu mir. Die Leute sind echte Pillenfresser. Wegen jedem Dreck. Und dann kommt so was bei raus. Ich schiebe der Conti-Frau die Packung bis kurz vor den Scanner. Ihr verkrüppeltes Händchen schnellt vor. Einhändiges Eintippen, nicht schlecht. Einhändige Geldannahme. Beim Abzählen des Silbers bewegt sie die Lippen, als wiederhole sie immer und immer wieder ein merkwürdiges Mantra. Einhändige Geldrückgabe. Einhändige Ausgabe einer Tüte. Einhändiges Greifen nach der Ware des nächsten Kunden. Nicht schlecht. Wirklich.
Ich hätt’s dann. Wiedersehen. Gruß an die Mutter. Nein, Schlafmittel während der Schwangerschaft genommen zu haben, könnte ich ihr auch nicht verzeihen.
Und hey, Teemädchen, bin jetzt zwei Wochen weg, da sehen wir uns nicht. Also, du mich ja sowieso nicht.
21
Und eine halbe Stunde später bin ich auf dem Parkplatz vor Joel Wagners Büro. Joel ist ein ehemaliger Studienkollege. Er betreut alle meine Vertragsangelegenheiten. Das macht er gut, soweit ich es beurteilen kann. Ob er mich in meinem Anliegen bezüglich Lutz & Wendelen optimal vertreten wird, kann ich nicht wissen. Er hat zwar einen hervorragenden Ruf, harter Hund, sehr gute Gewinnquote, Promimandantschaft und der ganze Schmus, aber was macht einen kompetenten Anwalt wirklich aus? Das ist wie mit Arztempfehlungen. Heikel. Erfolgreich im einen Fall bedeutet nicht, erfolgreich auch im nächsten. Denk ich mir jedes Mal.
In der Eingangshalle des Palastes aus Glas, Marmor und Stahl herrscht großräumige Stille. Alles scheint plötzlich ruhiger, als hätte ich einen Ort betreten, an dem die Welt um einige Dezibel leiser ist. Ich gehe vorbei an einer sicherlich hoffnungslos überteuerten Skulptur aus verspiegeltem Silber. Mit schwarzen Klecksereien veredelt. Sieht aus wie eine aufgeblasene schwangere Christbaumkugel mit Mondkratern und Einschusslöchern. Unübersehbar wie ein Hundehaufen in einer Kristallschale. Gordon F. Lightboddy, »The Cluster«, verrät die Plakette auf dem Boden. Wenn die Frage nach Ästhetik, nach schön oder nichtschön eindeutig zu beantworten ist, dann hier. Unabhängig des eigenen Geschmacks. Dies ist der Beweis des Hässlichen. Die moderne Kunstszene hat es doch tatsächlich vollbracht, beliebig abstrakten Werken, die auch der Hand eines schwerbehinderten Fünfjährigen entstammen könnten, den Nimbus kultureller Relevanz zu verschaffen. Das alles ist geradezu grotesk überschätzt. Strategisch gut gemacht. Kann man aus marketingtechnischer Sicht nicht besser lösen. Aus Scheiße Gold. Clever. Hätten Lutz & Wendelen jeder x-beliebigen Marketingagentur auch nicht optimaler in Auftrag geben können.
»The Cluster.« Pah. Reimt sich auf
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