Paranoia
selben Tag Geburtstag hat, ist genauso groß, wie jemanden zu treffen, der 78 Tage vor einem Geburtstag hat.
»Gut, danke. Wo ist eigentlich deine Sekretärin? War niemand da, als ich reinkam«, frage ich leichthin.
»Elisabeth? Die ist bis Freitag in den Flitterwochen. Hat geheiratet. Einen Kollegen aus der Kanzlei, Markus Reitinger. Könnte sein, dass du ihn mal gesehen hast. Hat sein Büro zwei Türen weiter.«
»Elisabeth die Wuchtbrumme hat geheiratet!« Ich gebe mich schockiert. »Schön! Sie-je isse doche Pollien, odda?«
»Ja, richtig. Ursprünglich aus Warschau.«
»Sieh an, dann hat sie ja alles richtig gemacht. Einen Deutschen geheiratet. Ich glaube, das gilt in Polen als Weltkarriere.«
»Das sowieso, und Michael ist zudem Akademiker, promoviert … Das darfst du nicht vergessen. Das ist die Premium-Weltkarriere mit Stern und Anstecknadel aus Weißblech.«
»Plus Eintrag ins Goldene Buch der Stadt Krakau«, sage ich zügig, und schon verfallen wir in den zwischen uns üblichen Ton.
»Und Verleihung der Ehrendoktorwürde Dr. Polski …«
»… honoris causae! Sich jetzt noch schwängern lassen, drei Jahre Ehe durchhalten, Scheidung – ich nehme an, du würdest sie vertreten …?«
»Selbstredend. Wenn sie mir einen bläst auch zum halben Preis!«
»… genau, und dann, voll alimentiert: Ausgesorgt!«
»Jawohl. Punkt, aus, gebongt, alles richtig gemacht, die kleine Fickliesl. Ich hol das Maximum raus.«
»Alles richtig gemacht!«, sage ich, und dabei fällt mir wieder ein, dass ich im Begriff bin, gerade alles falsch zu machen.
Pater Cornelius schaffte es, dass ich mir immer selbst die Schuld für alles gab, wofür er mich bestrafte. Der erstbeste Vorwand genügte, und ich war fällig. Auch wenn ich ihn umgebracht habe, bin ich dennoch immer sein Gefangener.
Joel nippt zimperlich am Kaffee, der nicht mehr heiß sein dürfte, und auf seine Frage, ob ich auch einen wünsche, entgegne ich: »Danke, nein«, was die instinktiv richtige Variante ist. Denn es besteht ein himmelweiter Unterschied zwischen »danke, nein« und »nein, danke«. Ähnlich wie zwischen »nicht so« und »so nicht«.
Joel quittiert mit einem einfachen Zum-Glück-keine-Umstände-Nicken, was das intuitive Gegenteil eines Dann-eben-nicht-Nickens ist, und wirft sich umgehend in Geschäftspositur (das, was er dafür hält), in der Version jung und dynamisch, nimmt seinen Kuli, streicht seine Krawatte glatt, macht sich auf einem Block eine Notiz, die er unterstreicht, eine Überschriftwahrscheinlich (»Fall Conrad Peng« plus Datum von heute?), und zieht unfreiwillig eine Riesenshow absoluter Seriosität ab. Freundschaft hin oder her, jetzt mal Tacheles, ich bin ganz Ohr, in etwa.
Er sieht mich auffordernd an und sagt: »Okay, dann erzähl mal.«
Knapp erläutere ich die beiden Vorfälle, die in Konsequenz eventuell meine Kündigung nach sich ziehen werden. Das A. L. I.-Meeting und mein schriftlicher Bericht. Ich schöne meinen Auftritt bei Air Linus, indem ich sage, der Vorstand hätte mich unangemessen attackiert und kritisiert und dadurch mein harsches Verhalten geradezu provoziert. Ist das lügen, wenn ich die Wahrheit sowieso nicht kenne? Es geht auf jeden Fall nicht anders. Ich glaube, langsam zerreißt es mich. Joel hört aufmerksam zu, und ich komme ins Stocken, als er mich bittet, ihm meinen Bericht an Dr. Lutz vorzulegen. Ich verspreche, ihm diesen zu e-mailen.
Jetzt
lüge ich. Aber darin habe ich Routine. Mein ganzes Leben ist eine Lüge. Niemand weiß zum Beispiel, nicht mal Ben oder Joel, dass ich mir schon als kleiner Junge ein Stottern eingefangen habe, das ich erst in meinem ersten Unisemester losgeworden bin. Das geht keinen etwas an. Ich könnte den Gedanken nicht ertragen. Ist ja auch egal. Bloßes Abschweifen.
»Sobald ich am Computer sitze, schicke ich dir den Bericht zu.«
Nichts dergleichen werde ich tun. Wenn Joel meinen Fuck-Piss-Shit-Bericht zu lesen bekäme, würde sich mein eigentliches Problem enthüllen. Und das ist kein juristisches, sondern ein medizinisches, das ist mir klar. Und deshalb beende ich diese meine löchrige Faktenpräsentation und sage: »Ja, und das war’s. So sieht’s aus. Für mich wäre jetzt wichtig zu wissen, womit ich seitens Lutz & Wendelen im Ernstfall einer Kündigung zu rechnen habe und ob du denkst, wir sollten selbst etwasunternehmen, um ihnen zuvorzukommen. Vielleicht sofort selbst kündigen, oder … keine Ahnung.« An dieser Stelle geht mir die Energie aus, so
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